Andrei Pöhlmann – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Tue, 25 Nov 2014 11:45:50 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Gedanken aus dem Cache – Warum wir das Denken oft anderen überlassen https://gbs-schweiz.org/blog/gedanken-aus-dem-cache/ https://gbs-schweiz.org/blog/gedanken-aus-dem-cache/#comments Thu, 13 Nov 2014 16:57:08 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8987 Eines der grössten Rätsel des menschlichen Gehirns besteht in der Frage, wie dieses Organ überhaupt funktioniert, wenn die meisten Neuronen mit einer Frequenz von 10 bis 20 Hz, also 10 bis 20 mal pro Sekunde feuern (die Höchstfrequenz beträgt lediglich 200 Hz). Die “Hundert-Schritt-Regel” aus der Neurologie besagt, dass jeder postulierte Arbeitsvorgang in maximal 100 aufeinanderfolgenden Schritten durchgeführt werden muss – dabei ist es egal, wie parallel diese Schritte ablaufen.

Können Sie sich vorstellen, ein Programm schreiben zu müssen, welches lediglich unter Verwendung von 100Hz Prozessoren läuft, auch wenn beliebig viele davon zur Verfügung stehen? Damit dieses Programm auch nur irgendetwas in Echtzeit ausführen kann, müssten Ihnen dann aber auch hundert Milliarden Prozessoren zur Verfügung stehen.

Müssten wir nun Echtzeitprogramme für hundert Milliarden 100Hz Prozessoren schreiben, dann würden wir von einem bestimmten Trick so oft wie möglich Gebrauch machen, nämlich dem des “Caching”. Darunter versteht man das Abspeichern von Ergebnissen bereits ausgeführter Operationen, um sie beim nächsten Mal einfach nachschauen zu können, statt sie erneut zu berechnen. Und die Neurone unseres Gehirns machen so etwas häufig, man denke nur an Wiedererkennung, Assoziation und Mustervervollständigung.

Vermutlich beruht der Grossteil menschlicher Kognition auf ‘cache-gestützten’ Suchen. Um zu veranschaulichen, was damit gemeint ist, diene folgendes Beispiel:

Ein Besserwisser unterhält sich mit seinem Nachbarn und behauptet nebenbei, die beste Methode den Schornstein eines Hauses zu entfernen, sei es, zuerst die Feuerstelle herauszuschlagen, darauf zu warten, dass die darüber liegenden Ziegel herunterstürzen, um auch diese wiederum zu beseitigen. Diesen Prozess wiederhole man so lange, bis schliesslich der Schornstein verschwunden sei. Jahre später, als der Nachbar seinen eigenen Schornstein entfernen wollte, wartete dieser Gedanke immer noch tief im Verborgenen seines Caches sehnlichst darauf, endlich abgerufen zu werden.

Wie dieser Mann später feststellen musste, war sein Nachbar nicht gerade der kompetenteste und verlässlichste Fachmann in diesem Bereich. Hätte er die Idee hinterfragt, wäre ihm vermutlich aufgefallen, um welch eine schlechte Idee es sich dabei gehandelt hatte. Manchmal wären wir besser dran, einige Cache Hits neu zu berechnen. Aber unser Gehirn vervollständigt das Schema automatisch – und falls wir nicht bewusst realisieren, dass jenes korrigiert werden muss, stehen wir lediglich mit einem ergänzten Muster da.

Wäre dem Mann der Gedanke selbst gekommen, wäre ihm die grossartige Idee, wie man einen Schornstein entfernt, persönlich eingefallen, hätte er die Idee vermutlich kritischer überprüft. Aber wenn andere bereits eine Idee durchdacht haben, kann man sich doch die Rechenarbeit sparen, indem man ihre Schlussfolgerung einfach im eigenen Cache abspeichert – oder etwa nicht?

Vor allem in unserer modernen Zivilisationen hat niemand die Zeit, sich alle Gedanken und Erkenntnisse selbst zu erschliessen. Würde man als Säugling im Wald ausgesetzt und von Wölfen erzogen werden, würde man als Kind im Verhalten später schwerlich als Mensch wiedererkennbar sein. Niemand kann schnell genug denken, um das gesamte Wissen eines Jäger-und-Sammler-Stammes in nur einer einzigen Lebensspanne zu rekapitulieren – von dem Wissen einer schriftkundigen Zivilisation ganz zu schweigen.

Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass Leute, die kritisches Denken anstreben, oftmals Gedanken aus ihrem Cache wiedergeben, welche nicht von kritischen Denkern stammen.

 

Thinking_Man

 

Ein gutes Beispiel hierfür wäre der Skeptiker, der einräumt: “Nun gut, man kann eine Religion nunmal nicht anhand von Tatsachen beweisen bzw. widerlegen.” Aber wie wir bereits sehen konnten, stimmt diese Aussage nicht. Auch ist dies falsch im Sinne der eigentlichen Psychologie, die sich hinter einer Religion verbirgt – noch vor wenigen Jahrhunderten wäre so ein Skeptiker auf dem Scheiterhaufen gelandet. Eine Mutter, deren Tochter krebskrank ist, betet: “Gott, bitte heile meine Tochter.” Und nicht: “Lieber Gott, ich bin mir bewusst, dass Religionen keine falsifizierbaren Konsequenzen beinhalten dürfen, was bedeutet, dass du meine Tochter unmöglich heilen kannst. Nun, eigentlich bete ich im Grunde nur, um mich selbst besser zu fühlen, anstatt etwas zu tun, das meiner Tochter tatsächlich helfen könnte.”

Aber Leute lesen “Man kann eine Religion nicht anhand von Tatsachen beweisen bzw. widerlegen” und beim nächsten Mal, wenn sie auf einen Nachweis stossen, der eine Religion widerlegt, vervollständigt ihr Gehirn das Muster. Sogar manche Atheisten wiederholen diesen Unsinn, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern. Hätten sie sich dieses Argument selbst ausgedacht, anstatt es von jemand anderem zu hören, wären sie skeptischer gewesen.

Welche Gedankenmuster werden von Ihrem Gehirn vervollständigt, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind?

Tod: Ergänzen Sie das Muster: “Der Tod gibt dem Leben einen Sinn.”

Rationalität: Ergänzen Sie das Muster: “Rationalität lässt keinen Platz für Emotionen.”

Wenn Ihnen dieser Gedanke persönlich gekommen wäre, als ein komplett neuer Einfall, wie würden Sie ihn kritisch hinterfragen? Manch einer würde erklären, was unter Rationalität zu verstehen ist, und dass überdurchschnittlich rationale Menschen natürlich auch Emotionen verspüren. Aber was würden Sie sagen? Manchmal kann es einem schwer fallen, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dennoch sollten wir versuchen, nicht in die üblichen und allbekannten Denkmuster zu verfallen.  Es mag sein, dass es keine bessere Antwort als die Standardantwort gibt. Aber solange wir unser Gehirn nicht davon abhalten können, die Antwort automatisch auszuspucken, sind wir auch nicht in der Lage, über die Antwort nachzudenken.

Beim nächsten Mal, wenn jemand bedenkenlos eine Idee wiedergibt, welche Sie für töricht oder falsch befinden, werden Sie sich nun vielleicht denken: “Das sind bloss Gedanken aus dem Cache.” Der Inhalt dieses Beitrags ist jetzt in Ihrem Gedächtnis verankert und wartet darauf, das Muster zu vervollständigen. Doch ist er auch wahr?

 

Quellenangabe

Yudkowsky, E. (2007): Cached thoughts. Übersetzt und ergänzt von Andrei Pöhlmann.

 

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Ein Plädoyer für posthumane Würde – Teil 3 https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-3/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-3/#respond Tue, 23 Sep 2014 16:10:23 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8687 Gefährden künftige Human-Enhancement-Technologien die menschliche Würde, wie dies Biokonservative behaupten? In diesem Beitrag wird zunächst der Begriff der Würde erläutert und anschliessend auf die Wichtigkeit eines Konzepts der Würde hingewiesen, das umfassend genug ist, um sich auch auf viele Arten von posthumanen Wesen anwenden zu lassen. Durch die Erkenntnis der Möglichkeit posthumaner Würde wird ein wichtiger Einwand gegen den Transhumanismus untergraben und eine verzerrende Doppelmoral beseitigt.

Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde? 

Gelegentlich wird das Konzept der Menschenwürde als polemischer Ersatz für klare Argumente ins Felde geführt. Das heisst nicht, dass es keine wichtigen ethischen Fragen im Bezug auf Würde gibt, aber es bedeutet, dass wir erst einmal definieren müssen, was wir eigentlich im Sinn haben, wenn wir den Begriff der “Würde” gebrauchen. Im Folgenden werden wir zwei unterschiedliche Bedeutungen des Würde-Begriffs betrachten:

  1. Würde als moralischer Status, im Besonderen das unveräusserliche Recht mit einem grundlegenden Grad an Achtung behandelt zu werden.
  2. Würde als die Eigenschaft, achtbar oder ehrenwert zu sein; Ehrenhaftigkeit, Wert, Edelmut, Vortrefflichkeit.1

Beiden Definitionen zufolge können also auch posthumane Wesen Würde besitzen. Francis Fukuyama scheint dies jedoch zu verneinen und glaubt, dass nur Menschen Würde besitzen können – und zwar aufgrund einer mysteriösen essentiell menschlichen Eigenschaft, die er “Faktor X” nennt2. Fukuyama warnt, dass das Aufgeben dieser Vorstellung zu einer Katastrophe führen würde:

Die Ablehnung des Konzepts der Menschenwürde – das heisst, der Vorstellung, dass die menschliche Spezies eine einzigartige Essenz aufweist, aufgrund derer jedes Mitglied unserer Art über einen höheren moralischen Status verfügt als alle anderen Spezies – wird uns auf einen gefährlichen Weg führen. Vielleicht werden wir uns schlussendlich genötigt sehen, diesen Weg einzuschlagen, aber wir sollten dies nur mit offenen Augen tun. Nietzsche kann uns viel besser aufzeigen, was uns auf diesem Weg erwartet, als all die unzähligen Bioethiker und akademischen Gelegenheits-Darwinisten, die uns heutzutage moralische Ratschläge bezüglich dieses Themas geben.3

Fukuyama scheint es zu beängstigen, dass das Erscheinen neuer Arten von genetisch veränderten Personen zur Folge haben könnte, dass manche Individuen (vielleicht Kinder, geistig Behinderte, oder genetisch unveränderte Menschen im Allgemeinen) einen Teil ihres moralischen Status verlieren würden, und dass eine fundamentale Voraussetzung liberaler Demokratien, nämlich das Prinzip der gleichen Würde aller Menschen, zerstört werden könnte.

Die zugrundeliegende Intuition scheint zu sein, dass sich unser “moralischer Kreis” nicht ausdehnt, wie dies Peter Singer berühmterweise behauptet, sondern dass die Fläche dieses moralischen Gebildes konstant bleiben muss, und wir höchstens dessen Form verändern können. Glücklicherweise mangelt es diesem angeblichen Gesetz der Erhaltung moralischer Anerkennung an empirischen Belegen. Die Menge der Individuen, denen vollständiger moralischer Status von westlichen Gesellschaften zugestanden wurde, hat sich sogar erweitert, und schliesst heute Männer ohne adlige Abstammung, Frauen und Menschen nicht-weisser Hautfarbe ein. Es scheint machbar, diese Menge noch weiter zu vergrössern, um somit eines Tages zukünftige Posthumane oder auch andere Tiere, beispielsweise höhere Primaten, einzuschliessen, ohne dass dadurch andere Lebewesen moralischen Status verlieren müssten. In diesem Prozess müssen wir uns nicht mit der Rolle passiver Zuschauer zufrieden geben. Wir können daran arbeiten, soziale Strukturen zu schaffen, die allen Wesen angemessene moralische Anerkennung und gesetzliche Rechte gewähren, ganz gleich, ob diese nun männlich, weiblich, schwarz, weiss, menschlich, nicht-menschlich, aus Fleisch oder aus Silizium sind.

Würde im zweiten Sinne, also bezogen auf eine besondere Ehrenhaftigkeit oder moralische Vortrefflichkeit, ist etwas, das gegenwärtige Menschen in überaus unterschiedlichem Ausmass besitzen. Manche leisten viel mehr als andere. Manche sind moralisch bewundernswert, andere sind gemein und unmoralisch. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass Posthumane nicht auch in diesem zweiten Sinne Würde besitzen könnten. Im Gegenteil, sie könnten uns Menschen sogar in moralischer und anderer Hinsicht übertreffen. Die fiktiven Bewohner der Schönen neuen Welt, welche vielmehr subhuman als posthuman waren, hätten auch bei dieser zweiten Art von Würde ziemlich schlecht abgeschnitten, was ein weiterer Grund dafür ist, weshalb sie schlechte Vorbilder abgeben, denen wir auf keinen Fall nacheifern sollten. Aber wir können uns sicherlich inspirierendere Ideale ausmalen, deren Verwirklichung wir anstreben möchten. Es könnte Menschen geben, die willentlich zu entwürdigten Posthumanen werden möchten – allerdings führen auch heute einige Menschen kein besonders würdevolles Leben. Das ist bedauerlich, aber nur weil einige Menschen schlechte Entscheidungen treffen, sollte man nicht allen Menschen das Recht auf freie Entscheidung entziehen. Zudem gibt es legitime Gegenmassnahmen: Bildung, Unterstützung, Diskussionen, sowie soziale und kulturelle Reformen. Dies sind die Massnahmen, die jene ergreifen sollten, die von den Aussichten auf entwürdigte posthumane Menschen beunruhigt sind. Ein pauschales Verbot aller posthumanen Existenzformen scheint kein adäquates Vorgehen darzustellen. Eine liberale Demokratie sollte normalerweise nur dann die Verletzung morphologischer und reproduktiver Freiheit erlauben, wenn jemand diese Freiheiten missbraucht, um einer anderen Person Leid zuzufügen.

Das Prinzip, dem zufolge Eltern darüber entscheiden sollten, welche genetischen Verbesserungen ihre Kinder erhalten, wurde insbesondere mit der Begründung kritisiert, dass diese Form von reproduktiver Freiheit gewissermassen eine elterliche Tyrannei darstelle, welche die Würde des Kindes und dessen Möglichkeit zur eigenständigen Entscheidung untergraben würde. Der Philosoph Hans Jonas argumentiert beispielsweise für diese These:

Die technologisch gebändigte Natur schliesst jetzt wieder den Menschen ein, der sich ihr (bisher) durch die Technologie als ihr Beherrscher widersetzt hat … Aber wessen Macht ist das – und über wen oder was? Offenbar die Macht Jetziger über Kommende, welche die wehrlosen Objekte vorausliegender Entscheidungen der Planer von heute sind. Die Kehrseite heutiger Macht ist die spätere Knechtschaft Lebendiger gegenüber Toten.4

Jonas vertraut auf die Annahme, dass unsere Nachfahren unseren Versuchen, ihre Fähigkeiten zu erweitern, hilflos ausgeliefert wären, obwohl sie wahrscheinlich technologisch weitaus fortgeschrittener sein werden als wir. Diese Annahme ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Falls unsere Nachfahren es aus irgendeinem unerklärlichen Grund vorziehen sollten, weniger intelligent und weniger gesund zu sein und kürzere Leben zu führen, würde es ihnen nicht an den Mitteln mangeln, diese Ziele zu erreichen und unsere Pläne zu durchkreuzen.

Doch wenn Eltern nicht über die wesentlichen Fähigkeiten ihrer künftigen Kinder bestimmen können, und die einzige Alternative darin besteht, das Kindeswohl der Natur, also blindem Zufall zu überlassen, dann sollte offensichtlich sein, welche der beiden Optionen die wünschenswertere ist. Wäre Mutter Natur tatsächlich eine Mutter, sässe sie bereits wegen Kindesmisshandlung und Mord im Gefängnis. Allerdings ist anzumerken, dass sich die Gesellschaft bereits heute in Ausnahmefällen über die elterliche Autonomie hinwegsetzt, wie beispielsweise im Fall von Kinderverwahrlosung oder Missbrauch. Vor diesem Hintergrund befürworten natürlich auch TranshumanistInnen, dass die Gesellschaft Massnahmen ergreifen sollte, um zukünftige Kinder vor wirklich schädigenden genetischen Eingriffen zu schützen. Doch prinzipiell sind die Wünsche der Eltern dem blinden Zufall der Natur vorzuziehen.

In einer aktuellen Arbeit äussert Jürgen Habermas die selbe Besorgnis wie Jonas und befürchtet, dass selbst das blosse Wissen darüber, absichtlich von jemandem gestaltet worden zu sein, bereits verheerende Auswirkungen haben könnte:

Wir können nicht ausschliessen, dass die Kenntnis von einer eugenischen Programmierung der eigenen Erbanlagen die autonome Lebensgestaltung des Einzelnen einschränkt und die grundsätzliche symmetrische Beziehung zwischen freien und gleichen Personen unterminiert.5

TranshumanistInnen könnten hier einwenden, dass es ein Irrtum wäre, anzunehmen, man könne nicht frei über die eigene Lebensgestaltung entscheiden, nur weil einige (oder gar alle) der eigenen Gene von den Eltern ausgewählt wurden. Tatsächlich hätte man in diesem Fall mindestens ebenso viel Entscheidungsfreiheit, als wenn die Zusammenstellung des eigenen Erbguts auf reinem Zufall basierte. Man könnte sogar wesentlich mehr Entscheidungsfreiheit und Autonomie im eigenen Leben geniessen, falls man aufgrund genetischer Modifikationen über erweiterte grundlegende Fähigkeiten verfügt. Gute Gesundheit, höhere Intelligenz, vielfältige Talente oder höhere Selbstregulationsfähigkeit sind Geschenke, die für gewöhnlich mehr Lebenspfade eröffnen, als sie versperren.

Es mag die Möglichkeit bestehen, dass einige genetisch veränderte Individuen diese Argumente nicht verstehen und sich daher durch das Wissen ihrer Entstehung unterdrückt fühlen. Doch dieses Risiko muss gegen die Risiken abgewogen werden, die mit einem unmodifizierten Genom einhergehen – Risiken, die äusserst schwerwiegend sein können. Es wäre unverantwortlich, jemanden mit dem unheilvollen Schicksal angeborener verminderter Fähigkeiten oder einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit in die Welt zu setzen, wenn sichere und effektive Alternativen zur Verfügung stehen.

Warum wir posthumane Würde brauchen

Ähnlich verhängnisvolle Vorhersagen wurden in den 70er Jahren gemacht, als man über die schwerwiegenden psychologischen Schäden spekulierte, die Kinder durch in-vitro Fertilization davon tragen würden, sobald sie ihre wahre Enstehungsgeschichte in Erfahrung bringen sollten, nämlich der in einem Reagenzglas — eine Vorhersage, welche sich als völlig falsch herausstellte. Es fällt schwer sich des Eindrucks zu erwehren, dass irgendein Bias oder philosophisches Vorurteil für die vorschnelle Bereitschaft verantwortlich ist, mit der viele Biokonservative unter den fadenscheinigsten empirischen Vorwänden ein Verbot bestimmter “Human Enhancement”-Technologien verlangen, während sie andere jedoch dulden. Angenommen es stellte sich heraus, dass das Abspielen von Mozarts Musik während der Schwangerschaft zu einer Verbesserung der musikalischen Talente des Kindes führen würde. Niemand käme jetzt auf die Idee, Mozarts Musik während der Schwangerschaft zu verbieten, mit der Begründung, man könne nicht ausschliessen, dass das Kind nicht irgendwelche psychischen Schäden erleidet, sobald es erfährt, dass dessen Fertigkeiten mit der Violine lediglich ein Produkt pränataler “Programmierung” der Eltern sind. Doch wenn es beispielsweise um genetische Modifikationen geht, werden Argumente, die nicht allzu stark von dieser Mozart-Parodie abweichen, als bedeutsame, wenn nicht sogar als eindeutig entscheidende Einwände von angesehenen biokonservativen SchriftstellerInnen vorgelegt. Für eine Transhumanistin sieht dies nach Doppeldenk aus. Wie kann es sein, dass Biokonservative fast jeden erdenklichen Nachteil, welcher womöglich auf den Vorhersagen der dubiosesten populär-psychologischen Theorien basiert, dermassen bereitwillig als tiefgründige philosophische Erkenntnis und als schlagendes Argument gegen den Transhumanismus akzeptieren?

Ein Teil der Antwort liegt womöglich in den unterschiedlichen Einstellungen begründet, die TranshumanistInnen und Biokonservative zur posthumanen Würde haben. Biokonservative tendieren dazu, posthumane Würde abzulehnen und sehen in posthumanen Wesen eine Bedrohung für die Menschenwürde. Daher sind sie versucht, nach Mitteln Ausschau zu halten, um jegliche Art von Eingriffen schlecht zu machen, welche in die Richtung fundamentalerer künftiger Modifikationen weisen, die letzten Endes zur Entstehung jener verabscheuenswerten Posthumanen führen könnten. Aber sofern dieser prinzipielle Widerstand gegen posthumane Wesen nicht öffentlich als Prämisse ihrer Argumentation erklärt wird, zwingt dies folglich Biokonservative dazu, sich, jedes Mal, wenn Einzelfälle isoliert betrachtet werden, eines doppelten Bewertungsmassstabes zu bedienen: beispielsweise einen Massstab im Falle von genetischen Interventionen und einen anderen für Verbesserungen der mütterlichen Ernährung (ein Eingriff, der vermutlich nicht als Vorbote einer posthumanen Ära angesehen wird).

Im Gegensatz dazu sind TranshumanistInnen der Meinung, dass menschliche und posthumane Würde miteinander vereinbar sind und sich gegenseitig ergänzen. Sie weisen nachdrücklich darauf hin, dass Würde im heutigen Sinne darin besteht, was wir sind und wohin wir uns potentiell entwickeln können – und nicht in unserem Stammbaum oder Entstehungsgrund gefunden werden kann. Nicht allein unsere DNA, sondern auch unsere technologische und soziale Umwelt bestimmen, was wir sind. In diesem umfassenderen Sinne ist die menschliche Natur dynamisch, teilweise vom Menschen geschaffen und verbesserungsfähig. Unsere gegenwärtigen, erweiterten Phänotypen (und die Leben, die wir führen) unterscheiden sich deutlich von denen unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren. Wir lesen und schreiben; wir tragen Kleidung; wir leben in Städten; wir verdienen Geld und kaufen Essen im Supermarkt ein; wir telefonieren, sehen fern, lesen Zeitung, fahren Autos, fertigen Steuererklärungen an, nehmen an nationalen Wahlen teil; Frauen gebären in Krankenhäusern; unsere Lebenserwartung ist dreimal so hoch wie im Pleistozän; wir wissen, dass die Erde rund ist, dass Sterne gigantische Gaswolken sind, die aufgrund der Kernfusion leuchten, und dass das Universum ungefähr 13,7 Milliarden Jahre alt und ungeheuer riesig ist. In den Augen eines Jäger-und-Sammlers mögen wir bereits “posthuman” erscheinen. Doch diese drastischen Erweiterungen menschlicher Fähgikeiten – manche davon biologischer, andere äusserlicher Art – haben uns dennoch nicht unseres moralischen Status beraubt, entmenschlicht, oder uns wertlos und niederträchtig gemacht. Sollten wir oder unsere Nachfahren nun eines Tages erfolgreich jenen Zustand erreichen, der nach unserer heutigen Auffassung als posthuman gilt, muss dies ebensowenig einen Verlust an Würde nach sich ziehen.

Für TranshumanistInnen gibt es keinen Grund, einen gravierenden moralischen Unterschied zwischen technologischen und anderweitigen Massnahmen zur Verbesserung von Menschenleben zu sehen. Indem wir uns für eine posthumane Würde aussprechen, fördern wir eine umfassendere und humanere Ethik. Eine Ethik, die sowohl zukünftige, technologisch veränderte Personen, als auch gegenwärtige Menschen umfassen wird. Gleichzeitig entledigen wir uns somit einer verzerrenden Doppelmoral und ermöglichen es uns dadurch, deutlicher zu erkennen, welche Möglichkeiten die Zukunft der Menschheit bereit hält.

Beitragsreihe: Ein Plädoyer für posthumane Würde

  1. Teil 1: Transhumanisten vs. Biokonservative
  2. Teil 2: Zwei Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen
  3. Teil 3: Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde?

Quellenangabe

Bostrom, Nick (2005). In Defense of Posthuman DignityBioethics, Vol. 19, No. 3, pp. 202-214. Ins Deutsche übersetzt von D. Althaus und A. Pöhlmann
1. Simpson, J. A.  and Weiner, E.  (1989). The Oxford English Dictionary, 2nd ed. Oxford. Oxford University Press.
2. Fukuyama, F. (2002). Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution. New York. Farrar, Strauss and Giroux: p. 149.
3. Fukuyama, op cit. note 8, p. 160.
4. Jonas, H. (1985). Technik, Medizin und Ethik: Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main. Suhrkamp.

5. Habermas, J. (2003). The Future of Human Nature. Oxford. Blackwell: p. 23.

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Ein Plädoyer für posthumane Würde – Teil 2 https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-2/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-2/#respond Mon, 15 Sep 2014 15:55:21 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8652 Die mögliche Existenz posthumaner Wesen wird aus mindestens zwei Gründen gefürchtet. Einer besteht darin, dass der Daseinszustand posthumaner Wesen inhärent entwürdigend ist, so dass wir uns womöglich selbst schädigen, falls wir zu Posthumanen werden. Der zweite besteht darin, dass posthumane Wesen vielleicht eine Gefahr für „normale“ Menschen darstellen. (Auf einen dritten möglichen Grund wird nicht eingegangen, dem zufolge die Existenz von Posthumanen Gott oder andere übernatürliche Wesen verärgern könnte.)

Ist ein posthumaner Daseinszustand entwürdigend?  

Der berühmteste Bioethiker, der die erste Befürchtung in den Mittelpunkt stellt, ist Leon Kass:

Die meisten gegebenen Schenkungen der Natur haben ihre artenspezifische Beschaffenheit: sie alle gehören einer gegebenen Art an. Kakerlaken und Menschen sind gleichermassen beschenkt, aber unterschiedlicher Natur. Einen Menschen in eine Kakerlake zu verwandeln – es braucht keinen Kafka, um uns dies zu zeigen – wäre entmenschlichend. Zu versuchen, einen Menschen in ein Wesen zu verwandeln, das mehr als ein Mensch ist, dürfte ebenso entmenschlichend sein. Wir benötigen mehr als eine allgemeine Wertschätzung der Geschenke der Natur. Wir benötigen spezielle Achtung und Respekt für das besondere Geschenk, das unsere eigene gegebene Natur ist1.

Transhumanisten entgegnen, dass die Geschenke der Natur zuweilen vergiftet sind und nicht immer akzeptiert werden sollten. Krebs, Malaria, Demenz, Altern, Verhungern, unnötiges Leiden und kognitive Defizite gehören alle zu den Geschenken, die wir aus gutem Grund verweigern. Zudem ist unsere artspezifische Beschaffenheit eine nahezu unerschöpfliche Quelle an Übeln, die völlig unzumutbar und unannehmbar sind – Mord, Vergewaltigung, Genozid, Betrug, Folter, Rassismus, Anfälligkeit für Krankheiten, Depression, um nur einige zu nennen. Die Schrecken der Natur im Allgemeinen und unserer eigenen Natur im Besonderen sind so gut dokumentiert2, dass es erstaunlich ist, dass jemand, der so angesehen ist wie Leon Kass, heutzutage immer noch auf die Natur als Richtschnur alles Wünschenswerten vertraut und dieser sogar moralische Prinzipien entlehnen will. Wir sollten dafür dankbar sein, dass unsere Vorfahren sich nicht von der Kass’schen Geisteshaltung mitreissen liessen, ansonsten würden wir uns immer noch gegenseitig Läuse vom Rücken zupfen. Anstatt sich der natürlichen Ordnung zu fügen, glauben Transhumanisten, dass wir das gute Recht haben, uns und unsere Natur gemäss menschenwürdiger Werte und persönlicher Sehnsüchte zu verbessern.

Wenn man die Natur als allgemeinen Massstab des Guten ablehnt, wie das die meisten umsichtigen Menschen heutzutage tun, kann man natürlich immer noch anerkennen, dass bestimmte Arten der Veränderung der menschlichen Natur entwürdigend wären. Nicht jede Veränderung ist ein Fortschritt. Nicht einmal jeder wohlgemeinte, technologische Eingriff in die menschliche Natur wäre alles in allem vorteilhaft. Doch Kass geht weit über diese Binsenwahrheiten hinaus, wenn er erklärt, dass uns zwangsläufig völlige Entmenschlichung bevorsteht, falls wir mittels Technologie unsere eigene Natur beherrschen werden:

..die endgültige technologische Beherrschung der eigenen Natur würde die Menschheit beinahe mit Sicherheit vollständig enkräftet zurück lassen. Diese Art von Kontrolle wäre identisch mit vollständiger Entmenschlichung. Lesen Sie Huxleys Schöne neue Welt, lesen Sie C. S. Lewis’ Die Abschaffung des Menschen, lesen Sie Nietzsches Darstellung des letzten Menschen, und dann lesen Sie die Zeitungen. Homogenisierung, Mittelmässigkeit, Pazifizierung, drogeninduzierte Zufriedenheit, Degradierung des Geschmacks, Seelen ohne Liebe und Verlangen – dies sind die unvermeidlichen Folgen, wenn die Essenz der menschlichen Natur zum letzten Ziel der technischen Beherrschung gemacht wird. Im Augenblick seines Triumphs wird der prometheische Mensch zur zufriedenen Kuh3.

BraveNewWorld_FirstEdition
Den fiktiven Einwohnern aus Schöne neue Welt, um das bekannteste Beispiel von Kass zu wählen, mangelt es zugegebenermassen an Würde (in mindestens einem Sinne des Wortes). Doch die Behauptung, dass die technische Beherrschung der menschlichen Natur zwangsläufig zu Szenarien ähnlich der Schönen Neuen Welt führt, ist überaus pessimistisch – und nicht auf Fakten gestützt – wenn man diese Behauptung als eine Vorhersage versteht, und falsch, wenn man sie als metaphysische Notwendigkeit auslegt.

Es gibt vieles an der fikitiven Gesellschaft auszusetzen, die von Huxley beschrieben wird. Sie ist statisch, totalitär, strikt nach Kasten getrennt und ihre Kultur liegt brach. Die Einwohner selbst sind entmenschlicht und würdelos. Doch posthuman sind sie nicht. Ihre Fähigkeiten sind nicht übermenschlich, sondern in vielerlei Hinsicht erheblich geringer als unsere eigenen. Ihre Lebenserwartung und Körperkraft sind ziemlich normal, aber ihr moralisches Bewusstsein ist nur rudimentär ausgeprägt und ihre intellektuellen, emotionalen und geistig-spirituellen Fähigkeiten sind verkümmert. Die meisten Einwohner der “schönen neuen Welt” sind aufgrund gentechnischer und physischer Manipulation mehr oder minder geistig unterentwickelt. Und jeder, ausser den zehn World Controllern (nebst einigen Primitiven und Ausgestossenen, die in eingezäunten Reservaten oder abgeschotteten Inseln leben müssen), wird daran gehindert, Individualität, unabhängiges Denken und Eigeninitiative zu entwickeln, und wird sogar dazu konditioniert, diese Eigenschaften schon von vornherein zu missbilligen. Schöne neue Welt ist kein Roman, der demonstriert, dass Human-Enhancement-Technologien unvermeidlich in einer Dystopie enden. Vielmehr veranschaulicht Schöne neue Welt, wie Technologie und soziale Manipulation eingesetzt werden können, um absichtlich moralisches Bewusstsein und intellektuelle Fähigkeiten zu verkrüppeln – das genaue Gegenbild transhumanistischer Vorstellungen.

Transhumanisten argumentieren, dass sich eine Schöne neue Welt am besten verhindern lässt, indem man morphologische und reproduktive Freiheiten gegen mögliche World Controller entschieden verteidigt. Wie die Geschichte gezeigt hat, ist es gefährlich, wenn man Regierungen erlaubt, diese Freiheiten einzuschränken. Die vom Staat geförderten und vorgeschriebenen Eugenikprogramme des letzten Jahrhunderts, die einmal von der Linken als auch von der Rechten befürwortet wurden, sind nun allseits diskreditiert. Menschen werden vermutlich sehr unterschiedliche Einstellungen gegenüber Human-Enhancement-Technologien haben, deshalb ist es essentiell, dass niemandem ein Beschluss von oben aufgezwungen wird, und dass Menschen selbst, nach bestem Wissen und Gewissen, darüber entscheiden können, was das Richtige für sie und ihre Familien ist. Bildung, öffentliche Diskussionen und Informationsaustausch sind die geeigneten Mittel, durch die vernünftige Entscheidungen gefördert werden; nicht ein weltweites Verbot potentiell vorteilhafter Enhancement-Technologien.

Stellen Posthumane eine Gefahr für normale Menschen dar?

Widmen wir uns nun der zweiten Befürchtung. Sie besteht darin, dass es womöglich einen Ausbruch von Gewalt zwischen normalen Menschen und posthumanen Wesen geben könnte. George Annas, Lori Andrews und Rosario Isasi haben argumentiert, dass wir das Klonen von Menschen und alle vererbbaren genetischen Modifikationen als “Verbrechen gegen die Menschheit” betrachten sollten, um dadurch die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer posthumanen Spezies zu reduzieren, da diese eine existentielle Bedrohung für die alte menschliche Spezies darstellen würde:

Die neue “posthumane” Spezies wird die alten “normalen” Menschen vermutlich als unterlegen, oder gar als Wilde betrachten und sie versklaven oder ausrotten wollen. Andererseits würden die normalen Menschen die Posthumanen womöglich als Bedrohung wahrnehmen und versuchen, die Posthumanen durch einen Präventivschlag zu töten, bevor diese sie selbst töten oder versklaven können. Es ist letztendlich diese vohersagbare Möglichkeit des Genozids, aufgrund derer spezies-verändernde Experimente potentielle Massenvernichtungswaffen, und unverantwortliche Gentechniker potentielle Bioterroristen sind4.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Bioterrorismus und unverantwortliche Gentechniker, die immer mächtigere Massenvernichtungswaffen entwickeln, eine ernsthafte Bedrohung für unsere Zivilisation darstellen. Aber es hilft niemandem, die Rhetorik von Bioterrorismus und Massenvernichtungswaffen zu verwenden, um den therapeutischen Gebrauch von Biotechnologie zur Verbesserung von Gesundheit, Lebenserwartung und anderer menschlicher Fähigkeiten zu verleumden. Hier werden unterschiedliche Probleme in einen Topf geworfen. Vernünftige Menschen können sich für die strenge Regulierung von Biowaffen aussprechen, während sie zugleich den vorteilhaften, medizinischen Gebrauch von Gentechnologie und anderen Human-Enhancement-Technologien befürworten, inklusive vererbbarer und “spezies-verändernder” Modifikationen.

Wie die Geschichte zeigt, besteht in menschlichen Gemeinschaften immer die Gefahr, dass eine Gruppe sich dazu entscheidet, eine andere Gruppe zu versklaven oder auszurotten. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, haben moderne Gesellschaften Gesetze und Institutionen geschaffen, die Bevölkerungsgruppen daran hindern, sich gegenseitig zu versklaven oder auszurotten. Die Wirksamkeit dieser Institutionen hängt nicht davon ab, dass alle BürgerInnen gleiche Fähigkeiten haben. In modernen Gesellschaften können zahlreiche Menschen, deren körperliche oder geistige Fähigkeiten stark eingeschränkt sind, friedlich Seite an Seite mit anderen Menschen zusammen leben, die aussergewöhnliche körperliche oder intellektuelle Fähigkeiten besitzen. Sollten jetzt noch Menschen mit technologisch verbesserten Fähigkeiten zu dieser bereits breitgefächerten Verteilung an Fähigkeiten hinzukommen, müsste dies nicht die Gesellschaft entzweien oder zu Genozid und Versklavung führen.

Es ist weiterhin zu bezweifeln, dass vererbbare genetische Veränderungen oder andere Human-Enhancement-Technologien zwangsläufig zu zwei deutlich verschiedenen und voneinander getrennten Spezies führen. Es scheint viel wahrscheinlicher, dass es ein Kontinuum von unterschiedlich veränderten oder verbesserten Individuen geben würde, welches sich mit dem Kontinuum der noch unverbesserten Menschen überlappen würde. Das Szenario, in welchem sich die “Verbesserten” zusammen tun und dann die “Unverbesserten” angreifen, sorgt zwar für spannende Science Fiction, aber ist nicht wirklich plausibel. Selbst heute wäre es prinzipiell möglich, dass sich beispielsweise die intelligentesten 90% verbünden und die restlichen 10% ermorden oder versklaven. Dass dies nicht geschieht, zeigt, dass eine gut organisierte Gesellschaft selbst dann zusammen halten kann, wenn diese aus vielen möglichen Koalitionen von Menschen besteht, die ein gemeinsames Merkmal teilen und durch einen Zusammenschluss in der Lage wären, die restlichen Menschen zu vernichten.

Der Extremfall eines Krieges zwischen Menschen und Posthumanen ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber trotzdem muss anerkannt werden, dass es berechtigte Bedenken hinsichtlich sozialer Belange auf dem Weg zum Posthumanismus gibt. Ungleichheit, Diskriminierung und Stigmatisierung – gegen, oder seitens modifzierter Menschen – könnten ernsthafte Probleme werden. Transhumanisten würden behaupten, dass diese (potentiell) sozialen Probleme auch soziale Lösungen erfordern. Geschlechtsangleichende Operationen sind ein Beispiel dafür, dass bereits heutige Technologien wichtige Aspekte der Identität verändern können. Die Erfahrungen von Transsexuellen zeigen, dass auch die westliche Kultur immer noch lernen muss, toleranter gegenüber Verschiedenartigkeit und Multikulturalität zu werden. Das ist eine Aufgabe, die wir bereits heute angehen können, indem wir ein Klima der Toleranz und Akzeptanz gegenüber jenen fördern, die anders sind, als wir selbst. Alarmistische und schwarzseherische Prophezeiungen von der Bedrohung technologisch verbesserter Menschen zu verkünden, oder diese von vornherein aufgrund ihrer angeblich entwürdigten Natur zu verurteilen, ist sicherlich nicht der beste Weg dorthin.

Doch wie verhält es sich mit dem hypothetischen Fall, bei dem jemand beabsichtigt, ein Wesen zu erschaffen, oder sich selbst in eines zu verwandeln, welches über solch immens verbesserte Fähigkeiten verfügt, dass es alleine oder mit nur wenigen Verbündeten in der Lage wäre, die Weltherrschaft an sich zu reissen? Das ist offensichtlich kein Szenario, das uns in der nahen Zukunft bevorsteht, aber es ist denkbar, dass die Aussicht auf die Erschaffung superintelligenter Maschinen diese Art von Bedenken aufkommen lassen könnte – und das vielleicht schon innerhalb der nächsten Jahrzehnte. Der potentielle Erschaffer einer neuen Lebensform mit solch überragenden Fähigkeiten wäre dazu verpflichtet, sicher zu stellen, dass dieses Wesen frei von psychopatischen Neigungen wäre und im Grundsätzlichen humane Absichten und Werte aufweist. Beispielsweise sollte von einem zukünftigen Programmierer einer künstlichen Intelligenz verlangt werden, dass er starke Argumente dafür liefern kann, dass die Inbetreibnahme seiner angeblich freundlich gesinnten Superintelligenz sicherer wäre als die Alternative. Es muss jedoch wiederum betont werden, dass dieses (gegenwärtige) Science-Fiction Szenario eindeutig von unserer heutigen Situation zu unterscheiden ist, und von unmittelbaren Bedenken hinsichtlich effektiver Massnahmen zur schrittweisen Verbesserung menschlicher Fähigkeiten und Gesundheit abzugrenzen ist.

Beitragsreihe: Ein Plädoyer für posthumane Würde

  1. Teil 1: Transhumanisten vs. Biokonservative
  2. Teil 2: Zwei Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen
  3. Teil 3: Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde?

Quellenangabe

Bostrom, Nick (2005). In Defense of Posthuman DignityBioethics, Vol. 19, No. 3, pp. 202-214. Ins Deutsche übersetzt von D. Althaus und A. Pöhlmann
1. Kass, L. R. (2003). Ageless bodies, happy souls. The New Atlantis, 1 (1), 9-28.
2. Siehe beispielsweise Glover, J. (2001). Humanity: A Moral History of the Twentieth Century. New Haven. Yale University Press.
3. Kass, L. (2004). Life, liberty and the defense of dignity: The challenge for bioethics. Encounter books: S.48
4. Annas, G. J., Andrews, L. B., & Isasi, R. M. (2002). Protecting the endangered human: Toward an international treaty prohibiting cloning and inheritable alterations. Am. JL & Med. 28, 151. S. 162
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Ein Plädoyer für posthumane Würde – Teil 1 https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-1/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-1/#respond Wed, 03 Sep 2014 14:38:07 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8572 Positionen hinsichtlich der Ethik von “Human-Enhancement-Technologien” können, grob charakterisiert, vom Transhumanismus bis hin zum Biokonservatismus reichen. TranshumanistInnen sind der Meinung, dass Human-Enhancement-Technologien weithin zugänglich gemacht werden sollten. Biokonservative sind grundsätzlich gegen den Einsatz von Technologie, um die menschliche Natur zu verändern. Ein Grundgedanke des Biokonservatismus besteht darin, dass Human-Enhancement-Technologien unsere Würde untergraben werden. Um eine Entwicklung bereits im Keim zu ersticken, die eines Tages womöglich in einem völlig entwürdigten “posthumanen” Zustand enden könnte, plädieren Biokonservative oft für umfassende Verbote von ansonsten vielversprechenden Human-Enhancement-Technologien. In dieser Beitragsreihe werden zwei weit verbreitete Befürchtungen in Bezug auf posthumane Wesen unterschieden. Desweiteren wird auf die Wichtigkeit eines Konzepts der Würde hingewiesen, das umfassend genug ist, um sich auch auf viele Arten von posthumanen Wesen anwenden zu lassen. Durch die Erkenntnis der Möglichkeit posthumaner Würde wird ein wichtiger Einwand gegen Human-Enhancement-Technologien untergraben und eine verzerrende Doppelmoral beseitigt.

 

transhumanmichelangelo

Transhumanisten vs. Biokonservative

Der Transhumanismus ist ein lose definierte Bewegung, welche sich allmählich in den letzten zwei Jahrzehnten herausgebildet hat, und als Weiterentwicklung des Humanismus und der Aufklärung betrachtet werden kann. TranshumanistInnen behaupten, dass die gegenwärtige menschliche Natur lediglich ein unfertiges Produkt ist, welches durch Wissenschaft im Allgemeinen und Technologie im Besonderen verbessert werden kann. Dies könnte es uns ermöglichen, die menschliche Lebenserwartung zu verlängern, unsere Gesundheit zu erhöhen, unsere körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern und unsere geistigen Fähigkeiten zu erweitern. Zudem könnten wir dadurch in der Lage sein, unsere Befindlichkeit und unsere Emotionen besser zu kontrollieren1. Von Interesse sind hierbei nicht nur gegenwärtige Technologien wie Gentechnik und Informationstechnologie, sondern auch voraussichtliche zukünftige Entwicklungen wie Mind Uploading, fortgeschrittene Nanotechnologie und künstliche Intelligenz.

TranshumanistInnen vertreten die Ansicht, dass Human-Enhancement-Technologien weithin zugänglich gemacht werden sollten, dass Individuen nach eigenem Ermessen entscheiden können sollten, welche dieser Technologien sie an sich selbst anwenden möchten (morphologische Freiheit), und dass Eltern in der Regel darüber entscheiden sollten, welche reproduktiven Technologien sie einsetzen möchten, falls sie Kinder bekommen wollen (reproduktive Freiheit)2. Obwohl es Gefahren gibt, die identifiziert und vermieden werden müssen, glauben TranshumanistInnen, dass Human-Enhancement-Technologien diesen Planeten von jedwedem Leiden befreien könnten und daher von unschätzbarem Wert sind. Es ist letztendlich möglich, dass wir oder unsere Nachkommen, aufgrund solcher Verbesserungen „posthuman“ werden, also zu Wesen werden, die über eine nahezu unbeschränkte Lebenserwartung, beinahe perfekte Gesundheit, enorme Kontrolle der eigenen emotionalen Zustände, sowie möglicherweise gänzlich neuartige Sinnesmodaliäten und Empfindungen verfügen werden. Posthumane Wesen könnten darüber hinaus körperliche und intellektuelle Fähigkeiten besitzen, welche die Fähigkeiten jedes heute existierenden Menschen bei weitem übertreffen. Transhumanisten argumentieren, dass es in Anbetracht dieser Aussichten am vernünftigsten ist, den technologischen Fortschritt zu akzeptieren und zugleich Menschenrechte als auch individuelle Entscheidungsfreiheit eindringlich zu schützen. Doch vor allem gilt es, gezielt Massnahmen zu ergreifen, um konkrete Gefahren – wie beispielsweise den Missbrauch biologischer Waffen durch Militär oder Terroristen – und unerwünschte ökologische oder soziale Nebeneffekte zu verhindern.

Im starken Gegensatz zu dieser transhumanistischen Sichtweise steht das biokonservative Lager, das sich gegen den Gebrauch von Technologien zur Veränderung der menschlichen Natur einsetzt. Einflussreiche biokonservative Schriftsteller sind unter anderem Leon Kass, Francis Fukuyama, George Annas, Jeremy Rifkin, Bill McKibben und Jürgen Habermas. Eine der zentralen Befürchtungen der Biokonservativen ist, dass Human-Enhancement-Technologien „entmenschlichend” sein könnten. Die Sorge – welche auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht wurde – besteht darin, dass diese Technologien möglicherweise unsere Menschenwürde untergraben oder unbeabsichtigt etwas am Menschsein erodieren könnten, das zutiefst wertvoll ist, sich jedoch schwierig in Worte fassen oder in eine Kosten-Nutzen-Analyse einbeziehen lässt. In manchen Fällen (z.B. Leon Kass) scheint das Unbehagen von religiösen oder krypto-religiösen Empfindungen herzurühren, während es für andere (z.B. Francis Fukuyama) säkularen Überzeugungen entspringt. Die Biokonservativen argumentieren, dass es am besten sei, vielversprechende Human-Enhancement-Technologien weltweit zu verbieten, um eine Entwicklung im Keim zu ersticken, die womöglich eines Tages in einem völlig verkommenen posthumanen Zustand endet.

Obwohl jede kurze Beschreibung notwendigerweise bedeutsame Nuancen unterschlägt, zeigt die obige Charakterisierung trotzdem eine wesentliche Trennungslinie in einer der bedeutendsten intellektuellen Auseinandersetzungen unserer Zeit auf: Wie sollten wir der Zukunft der Menschheit entgegensehen? Sollten wir versuchen, Technologien zu verwenden, um uns selbst „mehr als menschlich“ zu machen? Im nächsten Beitrag werden zwei verbreitete Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen unterschieden und es wird argumentiert, dass diese Befürchtungen teilweise unbegründet sind, und dass es zudem bessere Alternativen als weltweite Technologieverbote gibt, um den realen Risiken zu begegnen, auf denen diese Befürchtungen zum Teil fussen. Im darauffolgenden Beitrag wird auf das Konzept der Würde eingegangen, von der Biokonservative glauben, dass sie durch künftige Human-Enhancement-Technologien gefährdet wird. Abschliessend wird argumentiert, dass nicht nur Menschen in ihrer gegenwärtigen Form, sondern auch posthumane Wesen Würde besitzen könnten.

Beitragsreihe: Ein Plädoyer für posthumane Würde

  1. Teil 1: Transhumanisten vs. Biokonservative
  2. Teil 2: Zwei Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen
  3. Teil 3: Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde?

Quellenangabe

Bostrom, Nick (2005). In Defense of Posthuman DignityBioethics, Vol. 19, No. 3, pp. 202-214. Ins Deutsche übersetzt von D. Althaus und A. Pöhlmann
2. Bostrom, Nick (2003). Human genetic enhancements: a transhumanist perspective. The Journal of Value Inquiry, Vol. 37, No. 4, pp. 493-506.
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Sind deontologische moralische Urteile lediglich Rationalisierungen? https://gbs-schweiz.org/blog/sind-deontologische-moralische-urteile-lediglich-rationalisierungen/ https://gbs-schweiz.org/blog/sind-deontologische-moralische-urteile-lediglich-rationalisierungen/#respond Mon, 25 Aug 2014 14:00:24 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8475
  • Utilitaristische und deontologische Prozesse
  • Kognition und Emotion
  • Emotionen und deontologische Urteile
  • Ist der Utilitarismus emotionslos? ‒ Im Gegenteil!
  • Quellenangabe
  • In einem früheren Beitrag konnten wir bereits sehen, dass Menschen zu widersprüchlichen moralischen Entscheidungen neigen, jeweils abhängig davon, mit welchem Dilemma sie konfrontiert werden. Der Moralphilosoph Joshua Greene behauptet sogar, dass regelbasierte deontologische Urteile tendenziell Rationalisierungen sind. Doch lässt sich diese Aussage durch wissenschaftliche Erkenntnisse stützen?

    Utilitaristische und deontologische Prozesse

    Eine Strassenbahn ist ausser Kontrolle geraten und droht, fünf an das Gleis gefesselte Personen zu überrollen. Aber du kannst sie retten, indem du eine Weiche umstellst, so dass die Strassenbahn auf ein Nebengleis umgeleitet wird, wo sie nur eine Person töten wird. Würdest du die Weiche umstellen? Die meisten Leute, die zum Weichendilemma befragt werden, sind der Meinung, dass es moralisch richtig ist, die Strassenbahn umzuleiten1 2. Sie entscheiden sich damit utilitaristisch: Sie halten es für gerechtfertigt (und/oder geboten), jemanden zu schädigen, um dadurch mehr anderen zu helfen, d.h. insgesamt mehr Gutes zu bewirken. switch trolley Betrachten wir nun eine andere Variante dieses Gedankenexperiments, das Brückendilemma. Wieder rast eine Strassenbahn auf fünf an das Gleis gefesselte Personen zu. Die einzige Möglichkeit, sie zu retten, besteht darin, einen dicken Mann von einer Brücke auf das Gleis zu stossen, was die Strassenbahn aufhält. Würdest du den Mann herunterstossen? In diesem Fall sagen die meisten Leute, es sei falsch, das Leben von fünf Personen höher zu gewichten als dasjenige einer Person. Sie entscheiden sich damit deontologisch: Sie halten die deontologische Verpflichtung zur Wahrung individueller Rechte für wichtiger als die utilitaristische Überlegung, möglichst viel Gutes zu bewirken.   footbridgeForscherInnen präsentierten ProbandInnen eine Vielzahl „unpersönlicher“ (wie das Weichen-Dilemma) und „persönlicher“ Dilemmas (wie das Brücken-Dilemma) dieser Art. Anhand bildgebender Verfahren stellte sich heraus, dass persönliche Dilemmas hauptsächlich Gehirnareale aktivieren, welche in Verbindung mit Emotionen stehen, während unpersönliche Dilemmas mit Aktivität im Arbeitsgedächtnis und in den für kognitive Kontrolle zuständigen Hirnbereichen assoziiert sind3.

    Dies führte zur so genannten Dual-Process-Theorie moralischer Urteile, der zufolge das Brückendilemma einen Konflikt zwischen emotionaler Intuition (“Du darfst Menschen nicht von Brücken stossen!”) und utilitaristischer Kalkulation (“Das Herunterstossen der Person führt zu den wenigsten Toten”) hervorruft. Beim Brücken-Dilemma setzt sich bei den meisten Menschen die emotionale Intuition durch.

    Betrachten wir nun das Baby-Dilemma: Es ist Kriegszeit. Du versteckst dich mit deinen NachbarInnen in einem Keller vor feindlichen SoldatInnen. Plötzlich fängt dein Baby zu weinen an und und du hältst seinen Mund zu, um den Lärm zu unterdrücken. Entfernst du deine Hand vom Mund des Babys, werden die SoldatInnen euch finden und töten. Entscheidest du dich dafür, das Schreien deines Babys weiterhin zu unterdrücken, wird es ersticken und sterben. Ist es moralisch vertretbar, dein Baby zu Tode zu ersticken, um dich und die anderen DorfbewohnerInnen zu retten?

    In diesem Fall benötigen die Befragten mehr Zeit für eine Antwort und es lässt sich in ihren Antworten auch kein Konsens finden. Wenn die Dual-Process-Theorie recht hat, dann müssten Menschen angesichts des Baby-Dilemmas sowohl im ACC (eine mit Antwortkonflikten assoziierte Hirnregion) als auch in für die kognitive Kontrolle zuständigen Bereichen (deren Aktivität die Aufhebung einer stark emotionalen Antwort durch eine utilitaristische Überlegung nahelegt) eine erhöhte Aktivität aufweisen. Ferner müssten ProbandInnen, welche sich schliesslich für eine utilitaristische Antwort entscheiden („Rette möglichst viele Leben“) im Vergleich zu denjenigen, welche die deontologische Antwort wählen („Du darfst keine Babies töten“), mehr Aktivität in jenen Regionen des Gehirns aufzeigen, die mit dem Arbeitsgedächtnis und der kognitiven Kontrolle in Verbindung stehen. Tatsächlich konnten alle drei Vorhersagen bestätigt werden4.

    Weiter befürworten PatientInnen mit zwei verschiedenen Arten von Demenz oder Läsionen, die “emotionale Taubheit” verursachen, im Brückenbeispiel überdurchschnittlich häufig die utilitaristische Handlung5 6 7. Zudem verlangsamen kognitive Zusatzbelastungen, die das Arbeitsgedächtnis in Anspruch nehmen, utilitaristische, nicht aber deontologische Urteile8.

    Studien bezüglich individueller Unterschiede scheinen die Dual-Process-Theorie ebenfalls zu stützen. Menschen, welche (1) stark “kognitionsbedürftig” sind und wenig “Vertrauen in die Intuition” haben, (2) im Cognitive Reflection Test gute Ergebnisse erzielen, oder (3) ein aussergewöhnlich leistungsfähiges Arbeitsgedächtnis haben, entscheiden sich alle öfter utilitaristisch9 10 11. Dies führt uns zu Joshua Greenes kühner Behauptung:

    […] deontologische Entscheidungen sind tendenziell durch emotionale Reaktionen motiviert, und […] die deontologische Philosophie, anstatt auf moralischen Argumenten zu basieren, ist weitgehend eine Übung in moralischer Rationalisierung. Dies steht im Gegensatz zum Konsequentialismus, welcher […] aus ziemlich unterschiedlichen psychologischen Prozessen hervorgeht, die eher “kognitiv” sind und häufiger eine genuin moralische Argumentation beinhalten.12

    [Psychologisch betrachtet] ist die deontologische Moralphilosophie in Wirklichkeit […] ein Versuch, rationale Rechtfertigungen für emotional motivierte moralische Urteile zu generieren. Sie versucht nicht, moralische Schlussfolgerungen auf Basis moralischer Argumente zu erzielen.

     

    Kognition und Emotion

    Greene erklärt die Unterschiede zwischen “kognitiven” und “emotionalen” Prozessen im Gehirn wie folgt:

    […] “kognitive” Prozesse spielen eine besonders wichtige Rolle für das logische Denken, Planen, die Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis, die Impulskontrolle oder allgemein für die “höheren, exekutiven Funktionen”. Diese Funktionen tendieren zudem dazu, mit bestimmten Gehirnarealen in Verbindung zu stehen, hauptsächlich dem dorsolateralen Präfrontalkortex und dem Scheitellappen […] Emotionen hingegen hängen mit anderen Hirnbereichen zusammen, wie etwa der Amygdala und den mittleren Oberflächen des Frontal- und Scheitellappens […] Und während sich der Begriff “Emotion” auf stabile Zustände wie zum Beispiel Gemütszustände beziehen kann, werden wir uns hier hauptsächlich mit Emotionen beschäftigen, […] , welche durch Prozesse hervorgerufen werden, die […] schnell und automatisch, aber nicht zwingend bewusst sind.

    Da wir es mit zwei Arten von moralischen Urteilen (deontologische und konsequentialistische) und zwei Arten von neurologischen Prozessen (kognitiv und emotional) zu tun haben, gibt es laut Greene vier empirische Möglichkeiten:

    Erstens wäre es möglich, dass beide Urteilsarten generell “kognitiv” sind, wie es Kohlbergs Theorie vorschlägt (Kohlberg, 1971). Im Gegensatz dazu könnte es sein, dass beide Urteilsarten hauptsächlich emotional sind, wie es Haidt behauptet (Haidt, 2001). Dann gibt es das historische Stereotyp, dem zufolge der Konsequentialismus eher emotional ist (ausgehend von der “sentimentalistischen” Tradition David Humes (1740) und Adam Smiths (1759)) während die Deontologie eher ‘kognitiv’ ist (u.a. nach der kantische “rationalistischen” Tradition: siehe Kant (1785)). Schliesslich gibt es die Position, für welche ich eintrete, nämlich dass die Deontologie eher emotional motiviert ist, während der Konsequentialismus eher “kognitiv” ist.

    Die neurowissenschaftlichen Belege, die Greene für seine Position anführt, wurden bereits erläutert. Wenden wir uns nun den Argumenten von Johnathan Haidt zu.

    Emotionen und deontologische Urteile

    Haidt et. al. (1993)13 legten ProbandInnen eine Reihe harmloser Handlungen folgender Art vor:

    1. Ein Sohn verspricht seiner sterbenden Mutter, dass er ihr Grab jeden Tag besuchen wird, nachdem sie gestorben ist, hält sich dann jedoch nicht daran, weil er zu beschäftigt ist.
    2. Eine Frau benutzt eine alte amerikanische Fahne, um das Badezimmer zu putzen.
    3. Eine Familie isst ihren Hund, nachdem er von einem Auto überfahren wurde.
    4. Bruder und Schwester küssen sich auf die Lippen.
    5. Ein Mann masturbiert mithilfe eines toten Huhns, bevor er es zubereitet und isst.

    Den ProbandInnen wurden dann zu jeder dieser Handlungen Fragen wie diese gestellt: Ist diese Handlung falsch? Warum? Wird jemand geschädigt? Würde es dich stören, wenn das jemand machen würde? Greene fasst die Ergebnisse zusammen:

    Was veranlasst Menschen zu sagen, dass solche Handlungen falsch sind? Eine Hypothese wäre, dass diese Handlungen als schädlich aufgefasst werden, unabhängig davon ob sie es wirklich sind […] Küssende Geschwister könnten sich selbst psychisch schädigen. Mit einem Huhn zu masturbieren, könnte Krankheiten verbreiten, etc. Wenn diese Hypothese stimmt, dann würden wir erwarten, dass die Antworten auf die Frage “Kommt jemand durch diese Handlung zu Schaden?” mit dem Grad ihrer moralischen Verurteilung korrelieren […] Alternativ, d.h. falls die moralische Missbilligung in diesen Fällen emotional motiviert ist, dann würden wir erwarten, dass die Antwort der Leute auf die Frage “Wenn du so etwas sehen würdest, würde es dich stören?” ihre Antwort auf die gestellten moralischen Fragen besser vorhersagt.

    Aufmerksame LeserInnen mag es nun nicht überraschen, dass Emotionen der Grund für die deontologische Verurteilung harmloser Handlungen zu sein schienen. Darüber hinaus korrelierten sowohl Erziehung als auch Alter mit einer Zunahme an konsequentialistischen Urteilen (kognitive Kontrolle über Basisemotionen entwickelt sich erst im Laufe des Jugendalters14 15 16). Greene meint dazu:

    Nach unserem Modell der moralischen Urteilsfindung, dem zufolge intuitive emotionale Reaktionen vorherrschende moralische Intuitionen anregen, die durch “kognitive” Kontrollprozesse manchmal gehemmt werden, machen diese Ergebnisse Sinn.

    Es lässt sich aber noch mehr Evidenz für den Zusammenhang zwischen Emotionen und deontologischer Missbilligung unschädlicher Handlungen finden.

    Wheatley & Haidt (2005)16 gaben hypnotisierbaren ProbandInnen die Anweisung, auf das Wort “often” angewidert zu reagieren, während eine zweite Gruppe hypnotisiert wurde, auf das Wort “take” angewidert zu reagieren. Anschliessend zeigten sie den TeilnehmerInnen eine Vielzahl von Szenarien, von denen einige keine Schädigung beinhalteten. (Zum Beispiel: “Two second cousins have a relationshipt in which they “take weekend trips to romatic hotels” / “often go on weekend trips to romatic hotels”.) Wie erwartet, beurteilten die ProbandInnen diejenigen Szenarien moralisch verwerflicher, die mit den Worten ausformuliert waren, auf die sie zuvor “geprimet” wurden, angewidert zu reagieren. Wheatley und Haidt benutzten die selbe Vorgehensweise in einem zweiten Experiment, in dem die ProbandInnen auf ein Szenario antworten sollten, in dem sich die Personen nicht einmal ansatzweise falsch verhielten: “A student “often picks” / ”tries to take up” broad topics of discussion at meetings.” Trotzdem hielten viele ProbandInnen jene Handlungen, die mit mit dem Wort ausformuliert waren, auf das sie geprimet wurde, für moralisch falsch. Als sie nach einer Begründung gefragt wurden, erfanden sie Rationalisierungen wie “Es scheint, als ob er etwas im Schilde führt” oder “Es fühlt sich einfach so seltsam und ekelhaft an” oder “Ich weiss es nicht, es ist einfach so”.

    In anderen Studien haben ForscherInnen eine ekelerregende Situation realisiert, indem sie einige ProbandInnen an einem dreckigen Tisch oder in Gegenwart eines Furzsprays platzierten. Auch diesmal neigten jene ProbandInnen, welche der ekelerregenden Bedingung ausgesetzt waren, relativ zur Kontrollgruppe eher dazu, harmlose Handlungen als moralisch falsch zu bewerten18 19.

    Abschliessend sollten wir berücksichtigen, dass die Dual-Process-Theorie vorhersagt, dass deontologische Urteile schneller gefällt werden als utilitaristische, da die deontologischen Entscheidungen hauptsächlich auf schnellen, unbewussten und emotionalen Prozessen beruhen, während die utilitaristischen langsame, bewusste Überlegungen erfordern. Suter & Hertwig (2011)20 legten ProbandInnen eine Vielzahl moralischer Dilemmas vor und forderten sie entweder dazu auf, ihre Urteile schnell zu fällen oder sich Zeit zu lassen, um gründlich durchzudenken. Wie erwartet führten schnellere Antworten zu mehr deontologischen Urteilen.

    Ist der Utilitarismus emotionslos? ‒ Im Gegenteil!

    Wie wir gesehen haben, erhöhen “kognitive”, utilitaristische Entscheidungen gegenüber emotional motivierten, deontologischen Urteilen die Wahrscheinlichkeit der Betroffenen, nicht geschädigt zu werden. (Im Brückendilemma z.B. ist die Wahrscheinlichkeit eines Betroffenen, ohne Schaden zu bleiben, 5-mal höher, wenn utilitaristisch entschieden wird.) Obwohl der Utilitarismus zu besseren Ergebnissen führt, wird gegen ihn oft eingewandt, er sei emotionslos und gefühlskalt. Sicher spielen “kognitive” Prozesse wie beispielsweise das Berechnen von Erwartungswerten und das Abwägen gegensätzlicher Interessen bei utilitaristischen Entscheidungen eine grosse Rolle. Aber gerade Emotionen sind dafür verantwortlich, dass wir Leid als etwas “Schlechtes” empfinden. Begriffe wie “Leid” und die Diskussion der Frage, wie wir handeln sollen und welche moralische Theorie vernünftiger ist, können sich manchmal abstrakt anfühlen. Emotionen erinnern uns aber daran, wie ernst Leid ist und machen uns bewusst, wie viel davon abhängt, dass wir unsere Entscheidungen so fällen, dass wir das Leid möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend reduzieren. Zu diesem Ziel unsere Vernunft zu gebrauchen, ist nicht emotionslos, sondern im Gegenteil Ausdruck höchsten Mitgefühls mit jedem einzelnen Individuum. Und wenn die Ergebnisse der Moralpsychologie dazu beitragen, dass wir unsere Vernunft altruistisch möglichst optimal einsetzen, sind sie ethisch von grosser Bedeutung.

    Quellenangabe

    Muehlhauser, L. (2011). Are Deontological Moral Judgements Rationalizations? Übersetzt und ergänzt von A. Pöhlmann. LessWrong
    1. Petrinovich, O’Neill, Jorgensen (1993). An empirical study of moral intuitions: Toward an evolutionary ethics. Journal of Personality and Social Psychology, 64: 467-478.
    2. Petrinovich & O’Neill (1996). Influence of wording and framing effects on moral intuitions. Ethology and Sociobiology, 17: 145-171.
    3. Greene, Sommerville, Nystrom Darley, & Cohen (2001). An fMRI investigation of emotional engagement in moral judgment. Science, 293: 2105-2108.
    4. Greene, Nystrom, Engell, Darley, & Cohen (2004). The neural bases of cognitive conflict and control in moral judgment. Neuron, 44: 389-400.
    5. Ciaramelli, Muccioli, Ladavas, & di Pellegrino (2007). Selective deficit in personal moral judgment following damage to ventromedial prefrontal cortex. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2: 84-92.
    Cushman, Young, & Greene (2010). Multi-system moral psychology. In Doris (ed.), The Moral Psychology Handbook (pp. 47-71). Oxford University Press.
    6. Koenigs, Young, Cushman, Adolphs, Tranel, Damasio, & Hauser (2007). Damage to the prefrontal cortex increases utilitarian moral judgements.Nature, 446: 908–911.
    7. Mendez, Anderson, & Shapira (2005). An investigation of moral judgment in fronto-temporal dementia. Cognitive and Behavioral Neurology, 18: 193–197.
    8. Greene, Morelli, Lowenberg, Nystrom, & Cohen (2008). Cognitive load selectively interferes with utilitarian moral judgment. Cognition, 107: 1144-1154.
    10. Hardman (2008). Moral dilemmas: Who makes utilitarian choices. In Hare (ed.), Hare Psychopathy Checklist–Revised (PCL-R): 2nd Edition. Multi-Health Systems, Inc.
    12. Greene (2007). The secret joke of Kant’s soul. In Sinnott-Armstrong (ed.), Moral Psychology Vol. 3: The Neuroscience of Morality (pp. 35-79). MIT Press.
    13. Haidt, Koller, & Dias (1993). Affect, culture, and morality, or is it wrong to eat your dog? Journal of Personality and Social Psychology 65: 613-628.
    14. Anderson, Anderson, Northam, Jacobs, & Catroppa (2001). Development of executive functions through late childhood and adolescence in an Australian sample. Developmental Neuropsychology, 20: 385-406.
    15. Paus, Zijdenbos, Worsley, Collins, Blumenthal, Giedd, Rapoport, & Evans (1999). Structural maturation of neural pathways in children and adolescents: In vivo study. Science, 283: 1908-1911.
    17. Wheatley & Haidt (2005). Hypnotically induced disgust makes moral judgments more severe. Psychological Science, 16: 780-784.
    18. Baron & Thomley (1994). A Whiff of Reality: Positive Affect as a Potential Mediator of the Effects of Pleasant Fragrances on Task Performance and Helping. Environment and Behavior, 26: 766-784.
    19. Schnall, Haidt, & Clore (2004). Irrelevant disgust makes moral judgment more severe, for those who listen to their bodies. Unpublished manuscript.
    20. Suter & Hertwig (2011). Time and moral judgment. Cognition, 119: 454-458.
    Valdesolo & DeSteno (2006). Manipulations of emotional context shape moral judgment. Psychological Science, 17: 476-477.
    Greene (2009). The cognitive neuroscience of moral judgment. In Gazzaniga (ed.), The Cognitive Neurosciences, Fourth Edition (pp. 987–999). MIT Press.
    Kahane, Wiech, Shackel, Farias, Savulescu, & Tracey (2011). The neural basis of intuitive and counterintuitive moral judgment. Social Cognitive & Affective Neuroscience.
    Kohlberg (1971). From is to ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development. In Mischel (ed.),Cognitive development and epistemology (pp. 151–235). Academic Press.
    Kurzban (2011). Why Everyone (Else) Is a Hypocrite: Evolution and the Modular Mind. Princeton University Press.
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