Humanistischer Pressedienst – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Sun, 01 Mar 2015 15:13:05 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Hoffnung jenseits der Illusionen https://gbs-schweiz.org/blog/hoffnung-jenseits-der-illusionen/ https://gbs-schweiz.org/blog/hoffnung-jenseits-der-illusionen/#respond Sun, 23 Mar 2014 09:24:50 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7488 hoffnung_mensch_coverNach Michael Schmidt-Salomons Menschheitsverriss “Keine Macht den Doofen” ist nun seine Hommage an unsere oft verkannte Spezies erschienen.

„Es ist so leicht, Zyniker zu sein.“ Dieser Satz leitet das neue Buch ”Hoffnung Mensch“ von Michael Schmidt-Salomon ein, welches vor Kurzem am Sitz der Giordano-Bruno-Stiftung in Oberwesel vorgestellt wurde. Dass der Zynismus tatsächlich eine intellektuelle Verführung für all jene ist, die sich auch nur ansatzweise mit der menschlichen Geschichte beschäftigt haben, konnte der Philosoph in seinem zuvor erschienenen Werk ”Keine Macht den Doofen“ eindrucksvoll belegen.

Denn die Geschichte der Menschheit ist zu großen Stücken auch eine Geschichte der Unmenschlichkeit und Borniertheit. Gewalt und Unterdrückung zogen sich wie ein blutroter Faden durch ihre Chronik.

Doch ist es vernünftig Zyniker zu sein? Ist es vernünftig sich vorauseilend der Irrationalität der Welt zu beugen?

“Hoffnung Mensch” beleuchtet zwar die Sonnenseite unserer Spezies, beginnt jedoch zunächst sehr düster. Die Ausführungen über die Schwierigkeiten des Menschseins zeichnen das Bild einer gleichgültigen und absurden Welt, in der sich der Mensch zu behaupten hat. Das Bewusstsein um die eigene Vergänglichkeit – und der allen anderen Lebens auf der Erde – vermag uns in unserem narzisstischen Selbstverständnis zu kränken. Vergegenwärtigt man sich zudem die immense Ungerechtigkeit, mit der sich der Großteil der Menschheit konfrontiert sieht, scheint alle Hoffnung verloren zu sein.

Das Buch zeigt, dass diese Hoffnungslosigkeit aus selektiver Wahrnehmung resultiert. Zyniker sind auf einem Auge blind. Sie übersehen all die großen Meilensteine und kleinen Errungenschaften, die Menschen auf den Gebieten der Wissenschaft, der Kunst und der Philosophie erreicht haben – oder reden sie zumindest klein. Die Menschheitsgeschichte ist neben faszinierenden Erkenntnisfortschritten auch von einem harten und mutigen Emanzipations- und Gerechtigkeitskampf geprägt. Nicht weniger faszinierend sind die Kunstwerke, die das “sinnliche Tier” im Laufe der Zeit erschaffen hat.

All die Beispiele, welche im Buch für die Klugheit, die Phantasiebegabung, das Mitgefühl und den Humor des Menschen sprechen, sind dabei nie eine bloße Faktenanhäufung. Es ist eben gerade die interdisziplinäre Sicht auf unsere Spezies und das Gespür für Zusammenhänge, die das Buch so überzeugend machen.

Die Hoffnung, die Schmidt-Salomon meint, ist jedenfalls eine Hoffnung jenseits der Illusionen. Mit seinem leidenschaftlichen und zugleich versöhnlichen Plädoyer für den Glauben an die Menschheit meistert er eine Gratwanderung zwischen naivem Fortschrittsoptimismus und kühler Misanthropie. In keinem anderen Werk wurde eines so deutlich: Der evolutionäre Humanismus, den der Autor vertritt, ist auch eine Philosophie des Trotzdem. Es ist eine Philosophie, die zum Engagement für eine bessere Welt aufruft – ohne dabei die Augen vor den großen Hürden und Widrigkeiten des Lebens zu verschließen.

Im Ankündigungstext zur offiziellen Buchpräsentation wurde darauf hingewiesen, dass “Hoffnung Mensch” eine ähnliche Bedeutung für die Arbeit der Giordano-Bruno-Stiftung haben wird wie das 2005 erschienene “Manifest des evolutionären Humanismus”. Dies wird auch dem Anspruch der Stiftung gerecht, eine Denkfabrik zu sein und damit in avantgardistischer Manier eben solche Themen anzusprechen und zu überdenken, die noch nicht hinreichend problematisiert wurden. Das Buch dürfte dafür eine hervorragende Grundlage sein!

Quellenangabe
Dieser Artikel wurde ursprünglich von Florian Chefai bei Humanistischer Pressedienst publiziert.
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Der Glaube an die Menschheit https://gbs-schweiz.org/blog/der-glaube-an-die-menschheit/ https://gbs-schweiz.org/blog/der-glaube-an-die-menschheit/#respond Sun, 23 Mar 2014 09:16:58 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7457 mss_portrait_asMit “Hoffnung Mensch” hat Michael Schmidt-Salomon seinen Zyklus über die Philosophie des evolutionären Humanismus abgeschlossen. Im Gespräch mit Frank Nicolai erklärt er, warum er sich in dem “großen Finale” seiner Werkreihe zum “Glauben an die Menschheit” bekennt und weshalb er Bücher dieser Art nicht mehr schreiben wird.

hpd: Am Ende deines neuen Buchs weist du darauf hin, dass deine Monographien zum evolutionären Humanismus dem Muster einer viersätzigen Sinfonie gefolgt sind: Das “Manifest des evolutionären Humanismus” war der Auftaktsatz, der die zentralen Themen vorstellte, “Jenseits von Gut und Böse” das getragene Adagio, das von einem einzigen weitgespannten Thema getragen wurde, nämlich der Frage, wie wir ein entspannteres Verhältnis zu uns selbst und den anderen entwickeln können, “Keine Macht den Doofen” war ein Scherzo, das einige Kernthemen des ersten Satzes in ironisch-überspitzer Form aufgriff, und “Hoffnung Mensch” das Finale, das die Themenstränge der vorangegangenen Sätze in einer großangelegten humanistischen Coda zusammenführt. Hast du diesen Aufbau von Anfang an im Kopf gehabt oder hat sich das allmählich entwickelt?

Schmidt-Salomon: Die Idee dazu kam mir tatsächlich erst nach “Jenseits von Gut und Böse”. Das “Manifest” war ja ursprünglich nicht für eine größere Öffentlichkeit gedacht, sondern als Grundlagenschrift der Giordano-Bruno-Stiftung, die möglichst prägnant die Unterschiede zwischen einer evolutionär-humanistischen und einer religiösen Sichtweise darstellen sollte.

Nach dem unerwarteten Erfolg des Buchs bot sich mir die Gelegenheit, mit “Jenseits von Gut und Böse” der Frage nach dem Sinn und Unsinn des Schuld- und Sühnedenkens nachzugehen, mit der ich mich schon als Student intensiv auseinandergesetzt hatte. Als ich mit diesem Buch fertig war, dachte ich zunächst, alles gesagt zu haben, was ich zum Thema “evolutionärer Humanismus” zu sagen hatte.

Doch irgendwie ließ mich die Spannung nicht in Ruhe, die zwischen dem kämpferischen “Manifest” und dem abgeklärten “Jenseits von Gut und Böse” besteht. Mir wurde klar, dass diese Spannung daher rührte, dass ich im ersten Buch die Missstände der Welt mit meinen Idealvorstellungen unvermittelt konfrontiert hatte, während ich im zweiten Buch die Übel der Welt aus dem Ursachengeflecht ihrer Entstehung heraus erklärte.

Je mehr ich darüber nachdachte, umso stärker wurde mir bewusst, dass ich das Wesentliche zum evolutionären Humanismus noch gar nicht gesagt hatte. Ich hatte zwar einen munteren Auftaktsatz und ein getragenes Adagio geschrieben, doch das große Finale, das die Spannung aufhebt, fehlte noch.

Wie in einer Beethoven-Sinfonie hast du zwischen Adagio und Finale noch ein Scherzo, nämlich “Keine Macht den Doofen”, eingeschoben. Warum?

Ich hatte den Eindruck, dass ich die Spannung vor der Auflösung im Finale noch einmal erhöhen und meine Wut, Verbitterung und Enttäuschung über den katastrophalen Irrsinn in der Menschheitsgeschichte ungefiltert zum Ausdruck bringen musste.

“Keine Macht den Doofen” verschärfte daher den galligen, polemischen Ton, der schon im Manifest an einigen Stellen angeklungen war. Dramaturgisch schien mir das stringent zu sein: Das Buch hat innerhalb des Zyklus die Funktion eines “reinigenden Gewitters”. Erst nach diesem kräftigen Donnern war es mir möglich, die “Sonnenseite der Menschheit” gebührend zu würdigen.

Du hast eben davon gesprochen, dass du vor “Hoffnung Mensch” das Wesentliche zum evolutionären Humanismus noch nicht gesagt hattest. Worin besteht dieses “Wesentliche”?

Das Wesentliche ist der Glaube an die Menschheit, genauer: der Glaube an die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit. Ein Humanist muss daran glauben können, dass wir potentiell in der Lage sind, bessere, gerechtere Lebensbedingungen zu schaffen. Andernfalls mutiert er schnell zum Zyniker, der vorauseilend vor der Irrationalität der Welt kapituliert.

Beißt sich diese Betonung des “Glaubens an die Menschheit” nicht mit der Losung “Wissen statt glauben” der Giordano-Bruno-Stiftung?

Nein. Der Slogan “Wissen statt glauben” richtet sich gegen eine spezifische Form des Glaubens, nämlich das “Unbedingte-Für-Wahr-Halten-Wollen” von Aussagen – selbst, wenn diese längst widerlegt sind. Gläubige dieser Art sind an einer kritischen Prüfung ihrer Überzeugungen nicht interessiert, was fatale Konsequenzen hat.

Allerdings gibt es auch eine rationale Form des “Glaubens”: Da wir, wie Karl Popper zeigte, nichts mit absoluter Sicherheit wissen können, müssen gerade skeptische Rationalisten “glauben”, nämlich im Sinne von “vermuten”. Der Unterschied zwischen diesen beiden Grundformen besteht darin, dass der rationale Glaube notwendigerweise auf Belegen gründet, der irrationale Glaube jedoch alle Belege ignoriert, die im Widerspruch zu Glaubensdogmen stehen.

Unterschiedlich ist auch das Niveau der Selbstreflexion, denn Rationalisten wissen, dass sie etwas bloß glauben, während Irrationalisten bloß glauben, dass sie etwas wissen. Neben diesen beiden grundverschiedenen Varianten des “Glaubens” kennen wir allerdings noch eine dritte Verwendungsform des Wortes, nämlich “Glauben” im Sinne eines “hoffnungsvollen Vertrauens auf irgendetwas oder irgendjemanden”. Dieses “hoffnungsvolle Vertrauen” kann sowohl rational als auch irrational sein, je nachdem worauf es gerichtet ist. Hier müssen wir uns fragen: Gibt es Fakten, die eine Hoffnung stützen, oder beruht sie letztlich auf Illusionen, die einer kritischen Prüfung niemals standhalten würden?

Du hältst den “Glauben an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen” also für eine evidenzbasierte, rationale Hoffnung?

Ja. Die Entwicklungsfähigkeit unserer Spezies ist, wie ich in “Hoffnung Mensch” zeige, eine Tatsache, die man bei unvoreingenommener Betrachtung der biologischen und kulturellen Evolution schwerlich bestreiten kann. Leider übersehen wir häufig, welch fantastische Leistungen die Menschheit über die Jahrtausende hinweg in der Wissenschaft, der Philosophie, Kunst, Medizin und Technik erbracht hat, wie aufopferungsvoll sich viele unserer Artgenossen darum mühten, diese Welt zu einem besseren, gerechteren Ort zu machen, und mit wie viel Anstand, Würde und Tapferkeit die meisten von uns ihr Leben über die Runden bringen.

Du schreibst im Buch, dass das alles andere als selbstverständlich sei, da das Universum, in das wir hineingeboren werden, nicht darauf ausgelegt ist, uns besonders angenehme Rahmenbedingungen zu bescheren…

So ist es, leider! Wir sind nicht nur – wie alle “höheren” Lebensformen auf der Erde – mit allen erdenklichen Arten des physischen und psychischen Leids konfrontiert, wir wissen zudem auch noch, dass wir diesen Übeln nicht entgehen können – sosehr wir uns auch immer anstrengen mögen. Diese Ausweglosigkeit zu ertragen, ohne zu verzweifeln, ist keine Lappalie – und es grenzt fast schon an ein Wunder, dass die meisten von uns ihr Leben so tapfer meistern, ohne dem Irrsinn zu verfallen.

Diese existentiellen Nöte sind, wie du darlegst, auch ein Grund dafür, warum sich so viele Menschen ein Leben ohne Religion nicht vorstellen können…

Richtig. Konfrontiert mit der “Erfahrung des Absurden”, den “Widrigkeiten des Lebens” und der verstörenden “Ungerechtigkeit der Welt”, der wir nahezu überall begegnen, klammern sich Abermillionen von Menschen weltweit noch immer an die Rettungsringe des Glaubens – auch wenn aus ihnen, objektiv betrachtet, längst alle Luft entwichen ist. Wohl ahnen es viele, dass sie sich mithilfe dieser Rettungsringe nicht über Wasser halten können, doch nur wenige gestehen es sich ein. Zu groß ist die Angst, loslassen zu müssen und im Existenzstrudel ganz auf sich alleine gestellt zu sein.

Warum sollten wir uns damit beschäftigen?

Weil wir nur so begreifen können, was Menschen dazu bringt, entgegen aller Evidenz an traditionellen Glaubensvorstellungen festzuhalten. Denn nur die allerwenigsten Menschen sind bereit, “trostlose Wahrheiten” an die Stelle “hoffnungsvoller Illusionen” zu setzen.

Ein Leben jenseits der althergebrachten Irrtümer wird den meisten erst dann attraktiv erscheinen, wenn es mehr verspricht als bloße Vernünftigkeit, nämlich Hoffnung und Geborgenheit. Und eben hier liegt der große Vorzug des evolutionären Humanismus: Er bietet Hoffnung jenseits der Illusionen, zeigt alternative Möglichkeiten auf, um mit den existentiellen Nöten des Lebens fertig zu werden, und liefert darüber hinaus auch noch ein sinnvolles Rahmenkonzept, mit dessen Hilfe wir, wie ich in “Hoffnung Mensch” darlege, die großen ökologischen, ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Probleme unserer Zeit besser in den Griff bekommen könnten.

Eine universelle Heilslehre also?

Eben nicht! Heilslehren sind geschlossene Denksysteme, die auf einem festen Dogmengerüst beruhen.

Der evolutionäre Humanismus hingegen ist ein offenes Denksystem, das darauf angelegt ist, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, sondern vielmehr eine innere Notwendigkeit, dass ich zentrale Sachverhalte anders darstelle, als es Julian Huxley, der Namensgeber des evolutionären Humanismus, getan hat. Sofern sich nachkommende Generationen noch mit dem evolutionären Humanismus beschäftigen sollten, wird ihre Version selbstverständlich anders ausfallen als meine – und das ist auch gut so.

hoffnung_mensch_coverDein Buch ist erst seit kurzem auf dem Markt, doch im humanistischen Spektrum gab es bereits sehr unterschiedliche Reaktionen. Helmut Fink, der Vorsitzende des KORSO und einer der Vordenker des Humanistischen Verbands Deutschland (HVD), lobte das Buch auf hpd.de als “leicht lesbares, unterschiedliche Wissensgebiete vereinendes, aufklärerisches Grundlagenwerk mit positiver Botschaft und starkem Begeisterungspotenzial”. Mit einem Augenzwinkern meinte er, ein “Anflug von Weisheit wird spürbar”…

Ja, das war doch mal ein nettes Kompliment… (lacht)

Im Gegensatz dazu lieferte Joachim Kahl, ein im HVD ebenfalls geschätzter Autor, auf diesseits.de einen gnadenlosen Verriss von “Hoffnung Mensch” ab. Er meinte, du seist in Wirklichkeit kein “Humanist”, sondern “Animalist”, und dein Ziel sei weniger die Förderung der Aufklärung als die Gründung einer neuen humanistischen Religion. Was hältst du von Kahls Kritik?

Joachim versteht es, seine Gedanken elegant zum Ausdruck zu bringen. Das Problem ist aber, dass er seit einiger Zeit offenkundig meint, sich dadurch profilieren zu müssen, dass er Autoren wie Deschner, Dawkins und mich in Grund und Boden kritisiert. Das hat ihn zu einem gern gesehenen Gast in Theologischen Akademien gemacht, was ja nicht verwerflich ist, unangenehm ist aber, dass er uns a) Dinge vorwirft, die wir nie geschrieben haben, und uns b) mit Argumenten belehrt, die sehr viel klarer schon in den kritisierten Büchern stehen.

Eine solche Form der Kritik ist kein Geschenk, das die Kritisierten weiterbringt, sondern ein Ärgernis, für das man kostbare Zeit aufbringen muss, um die Missverständnisse zu korrigieren. Ich weiß nicht, mit welchem Ziel Joachim die Werke anderer religionskritischer Autoren liest, auf jeden Fall haben seine Interpretationen mit den eigentlichen Inhalten dieser Bücher wenig zu tun, was ihn immer wieder zu kuriosen Schlussfolgerung bringt. In der Rezension von “Hoffnung Mensch” beispielsweise wirft er mir vor, den Menschen gleichzeitig zu erniedrigen und (!) zu überhöhen, was nicht nur im höchsten Maße widersprüchlich ist, sondern auch belegt, dass er die eigentliche Pointe des Buchs nicht begriffen hat.

Worin liegt diese Pointe?

Die Pointe ist, dass man den Menschen sehr wohl als das mitfühlendste, klügste, fantasiebegabteste, humorvollste Lebewesen auf dem Planeten darstellen kann, ohne ihn deshalb aus dem Naturzusammenhang, der Tierwelt, herauslösen zu müssen. Joachims Vorstellung, dass die “Würde des Menschen” nur in scharfer Abgrenzung zum Tierreich begründet werden könnte, ist ein zentraler Gedanke des alten, klassischen Humanismus, den wir vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, für die sich Joachim leider kaum interessiert, nicht mehr aufrechterhalten können.

Wenn das stimmt, was spricht dann dagegen, den evolutionären Humanismus als “Animalismus” zu interpretieren? Schließlich ordnest du den Menschen konsequent ins Tierreich ein und willst mit deinem Ansatz nicht zuletzt auch den sogenannten “Speziesismus” überwinden, also die Nichtbeachtung der Interessen all jener Lebewesen, die nicht zu unserer Art gehören.

Richtig, doch wir dürfen die Argumentationsebenen nicht durcheinander werfen! Selbstverständlich sollten wir die Interessen nichtmenschlicher Lebewesen in einer fairen Güterabwägung berücksichtigen, aber – und das ist der entscheidende Punkt: Niemand erwartet von einem Schimpansen, einem Tiger, einem Sperling oder einem Regenwurm, dass er das “Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen” beachtet!

Ich bin deshalb Humanist, weil ich an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen glaube und darauf vertraue, dass wir dank der besonderen biologischen und kulturellen Evolution unserer Spezies für bessere Lebensverhältnisse auf diesem Planeten sorgen können. Aus dem gleichen Grund bin ich selbstverständlich kein “Animalist”, denn es wäre absurd, im gleichen Sinne “an das Tierreich zu glauben” und darauf zu hoffen, dass Löwen, Kühe, Spinnen oder Kartoffelkäfer in absehbarer Zeit eine “Allgemeine Erklärung der Tierrechte” verabschieden und in ihrer Lebenspraxis berücksichtigen werden.

In Ordnung! Wie aber steht es um Kahls zweiten Vorwurf? Er meint, du hättest dich vom “hämischen Religionsverächter” zum “Lobredner von Religion und Religiosität” gewandelt, was er unter anderem damit begründet, dass du die Religionen als “kulturelle Schatzkammern der Menschheit” bezeichnest?

Dieser Vorwurf ist wirklich derart unter aller Kritik, dass es sich kaum lohnt, näher darauf einzugehen. Daher nur kurz: Es kommt natürlich darauf an, was mit den Begriffen “Religion” bzw. “Religiosität” bezeichnet werden soll.

Versteht man darunter mit Schleiermacher den “Sinn und Geschmack fürs Unendliche”, oder wie Richard Dawkins sagen würde: “Religiosität im Einsteinischen Sinne”, gibt es aus evolutionär-humanistischer Sicht keinen vernünftigen Grund, sich kritisch dazu zu positionieren. Völlig anders sieht es jedoch aus, wenn mit “Religion” ein “institutionell verankertes Weltanschauungssystem” gemeint ist, das aus unüberprüfbaren oder offenkundig fehlerhaften Seins-Aussagen über die Struktur des Universums ethisch problematische Sollens-Sätze ableitet. In diesem Fall ist Kritik, auch scharfe Kritik, die empfindlichere Gemüter als “hämisch” empfinden mögen, dringend erforderlich.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gerade die rationale Beschäftigung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, etwa der Kosmologie und Evolutionsbiologie, den “Sinn und Geschmack fürs Unendliche” nährt, während religiöse Überlieferungen diesen “Sinn und Geschmack” eher verderben, weil sie das Universum sehr viel kleiner machen, als es in Wirklichkeit ist. All diese Zusammenhänge habe ich seit dem “Manifest des evolutionären Humanismus” in all meinen Büchern beschrieben – nicht nur in “Hoffnung Mensch”, sondern auch in “Keine Macht den Doofen”, wo ich die Lächerlichkeit “religiotischer” Weltdeutungen sehr viel schärfer herausgearbeitet habe als jemals zuvor.

Den Wandel, den Joachim Kahl in seiner Besprechung herbeihalluzinierte, hat es nie gegeben.

Und was ist mit den “kulturellen Schatzkammern”?

Ach ja, die hätte ich ja fast vergessen… (lacht) Ich habe diesen Begriff in exakt dem gleichen Sinne bereits im “Manifest des evolutionären Humanismus” verwendet (auf Seite 162) und danach auch noch in zahlreichen anderen Veröffentlichungen.

Es sollte klar sein: Wären die Religionen nichts weiter als Unterdrückungsideologien, die ausschließlich Menschenverachtendes und Sinnloses enthielten, hätten sie sich in der Geschichte nicht so lange halten können. Auf diesen Punkt hat ja schon Franz Buggle in seinem Buch “Denn sie wissen nicht, was sie glauben” hingewiesen: Die große Stärke und zugleich die große Gefahr der Religionen besteht darin, dass sie Nächstenliebe mit Fernstenhass, Barmherzigkeit mit Grausamkeit, Zuckerbrot mit Peitsche verbinden. Unsere Aufgabe ist es daher, das Unsinnige und Lebensfeindliche, das sich in religiösen wie nichtreligiösen Traditionen ausgebildet hat, vom Sinnvollen und Lebensförderlichen zu trennen. Eben das meint der Begriff der “großen Konversion”, den ich im letzten Kapitel von “Hoffnung Mensch” erläutere.

Ist es eigentlich ein Zufall, dass “Hoffnung Mensch” zum 10-Jahresjubiläum der Giordano-Bruno-Stiftung erscheint?

Nein, das war so geplant. Das Buch enthält, wenn man so will, unseren zweiten “10-Jahres-Plan”, tritt also die Nachfolge des “Manifests” an, das die Arbeit der gbs in den ersten Jahren prägte. Wir haben schon längere Zeit darüber nachgedacht, der Stiftung ein etwas anderes Profil zu geben.

Zwar ist es völlig klar, dass wir auch in Zukunft Religionskritik betreiben müssen, aber zum einen haben wir auf diesem Gebiet in den letzten Jahren schon vieles erreicht, was wir nicht noch einmal wiederholen müssen, und zum anderen ist es auch nicht besonders hilfreich, bloß sagen zu können, wogegen man ist, wenn man nicht ebenso deutlich artikulieren kann, wofür man eintritt. Deshalb finden sich in “Hoffnung Mensch” viele positive Aussagen zu unterschiedlichsten Themen, die irgendwann sicherlich auch zu entsprechenden Kampagnen der Stiftung führen werden.

Das Themenspektrum des Buchs ist wirklich beeindruckend. Es dürften nur sehr wenige Bücher geschrieben worden sein, die die Erkenntnisse so vieler unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zusammenführen. Das erklärt sicherlich auch, warum du im Dankeswort von “Hoffnung Mensch” schreibst, dass dich kein Buch je so viel Mühe gekostet habe.

Ja, das Schwierige war allerdings nicht, das ganze Material zusammenzutragen, sondern aus diesem reichhaltigen Material das Wesentliche auszuwählen und in eine ansprechende Form zu bringen. Ich hätte sicherlich weit mehr als tausend Seiten über die vielfältigen Fortschritte der Menschheit in der Wissenschaft, der Technik, Medizin, Kunst, Ethik und Politik schreiben und auch die gegenwärtigen Weltprobleme sehr viel ausführlicher noch analysieren können, aber ein solches Mammutwerk hätte wohl niemand lesen wollen.

Ganz am Schluss des Buchs heißt es, die “Zeit der Tortur” sei nun endlich vorbei. Das klingt ziemlich endgültig…

Ist auch so gemeint. Ich werde definitiv kein weiteres Grundlagenbuch mehr zum evolutionären Humanismus schreiben. Mit “Hoffnung Mensch” ist dieses Kapitel für mich abgeschlossen. Es ist in meinen Augen ein perfektes Finale, das den Zyklus genau so abrundet, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen.

Würdest du sagen, dass “Hoffnung Mensch” dein bestes Buch ist? Das Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte?

“Unbedingt” muss niemand meine Bücher lesen, wäre ja noch schöner! (lacht) Aber es ist schon wahr: Wenn eines meiner Bücher, dann am besten “Hoffnung Mensch”! Es ist das Buch, das die meisten Gedanken zusammenführt und auch am ehesten für sich alleine stehen kann. Das gilt mit leichten Abstrichen wohl auch für “Jenseits von Gut und Böse”. Das “Manifest” und “Keine Macht den Doofen” sind mir zwar ebenfalls lieb und teuer (gerade weil sie streckenweise so unverschämt frech sind), aber sie könnten, wenn man sie losgelöst vom Kontext liest, sehr viel eher missverstanden werden – insbesondere von Leuten, die mit der literarischen Gattung der “Streitschrift” nicht viel anfangen können.

Was machst du denn jetzt – abgesehen von der Stiftungsarbeit, die ja weitergehen wird –, wenn du von nun an keine neuen Bücher zum evolutionären Humanismus mehr schreiben willst?

Wahrscheinlich werde ich mich intensiver mit Detailproblemen beschäftigen, etwa der Bioethik oder der Sterbehilfe. Ich habe auch schon ein paar Ideen für Kinderbücher, die interessant sein könnten. Zudem will ich nun endlich einen schon lange geplanten Science-fiction-Roman schreiben.

Selbstverständlich werden auch diese Projekte vom Geist des evolutionären Humanismus getragen sein, aber etwas wirklich Grundlegendes zu diesem Thema wird von mir nicht mehr kommen. Ich habe dazu gesagt, was ich sagen wollte. Alles Weitere wäre bloße Wiederholung und das will ich weder mir noch meinen Leserinnen und Lesern zumuten.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Quellenangabe
Dieses Interview wurde durch Frank Nicolai geführt und ursprünglich bei Humanistischer Pressedienst publiziert.
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Ist das Geheimnis menschlichen Denkens enthüllt? https://gbs-schweiz.org/blog/ist-das-geheimnis-menschlichen-denkens-enthuellt/ https://gbs-schweiz.org/blog/ist-das-geheimnis-menschlichen-denkens-enthuellt/#respond Tue, 19 Nov 2013 16:10:31 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=5545 In seinem Buch „How to Create a Mind“ zeigt der bekannte amerikanische Futurist und Pionier der künstlichen Intelligenz Ray Kurzweil, dass mittlerweile die Art und Weise, wie menschliches Denken funktioniert, weitgehend entschlüsselt ist. Nach seiner Meinung werden wir mit dieser Erkenntnis innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte in der Lage sein, Computer mit allen geistigen Fähigkeiten des Menschen auszustatten.

Ray Kurzweil genießt im englischsprachigen Raum hohes Ansehen. So erhielt er 19 Ehrendoktortitel und eine ganze Reihe von Auszeichnungen, darunter die „National Medal of Technology“. Er gilt als eine der Leitfiguren des Trans- und des Posthumanismus. Er ist Pionier der optischen Texterkennung, der Sprachsynthese, der Spracherkennung, der Flachbettscannertechnologie und der elektronischen Musikinstrumente (insbesondere Keyboards) und hat in diesen Bereichen eine Reihe von Firmen gegründet. Seit 2012 arbeitet er als leitender Ingenieur bei Google. Sein 2005 veröffentlichtes Buch „The Singularity Is Near“ war ein Bestseller. Im Verlag lolabooks ist gerade eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Menschheit 2.0, die Singularität naht“ erschienen. Der Verlag plant, auch das hier besprochene Buch demnächst in deutscher Sprache herauszugeben.

Im Folgenden lesen Sie die Rezension von Herrn Dr. Bernd Vowinkel.

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Der Algorithmus des Denkens

In der ersten Hälfte des Buches gibt Kurzweil einen zusammenfassenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Hirnforschung. Die grundlegenden Funktionseinheiten des Gehirns sind die Nervenzellen (Neuronen). Sowohl ihre biochemische Funktion als auch die daraus resultierende Funktion der Informationsverarbeitung sind weitestgehend erforscht und es gibt gute Simulationsmodelle dafür. Da als Grundlage dieser Modelle die klassische Physik und die sich daraus ableitende Biochemie ausreichend ist und sich diese Teile der Naturwissenschaften vollständig algorithmisch beschreiben lassen, ist damit zwangsläufig auch die Funktion der Neuronen vollständig algorithmisch beschreibbar.

Dem häufig vorgebrachten Gegenargument, dass die Neuronen teilweise analog arbeiten und somit mit einem Digitalcomputer nicht ausreichend simuliert werden können, begegnet Kurzweil mit dem Hinweis dass z.B. die analoge Größe der Leitfähigkeit in den Synapsen der Neuronen völlig ausreichend mit 8 Bit verschlüsselt werden kann. Analoge Vorgänge können grundsätzlich mit jeder gewünschten Präzision in Digitalcomputern simuliert werden.

Der Teil des Gehirns, in dem bewusstes Denken stattfindet, ist der Neocortex. Es ist die äußere Schicht des Großhirns mit einer Stärke von 2 bis 5mm, die selbst wieder aus sechs einzelnen Schichten besteht. Durch die Faltung des Gehirns ist die Gesamtfläche vergleichsweise groß (1800 qcm). Man kann hier Einheiten, so genannte cortikale Säulen, identifizieren, die jeweils aus etwa 10 000 Neuronen bestehen. Der Teil des genetischen Codes, in dem der Bauplan des menschlichen Gehirns steckt, hat einen Umfang von ca. 25 MB. Das ist eine erstaunlich geringe Datenmenge. Der Bauplan eines heutigen Verkehrsflugzeugs benötigt eine hundert bis tausendmal größere Datenmenge. Es ist nach Kurzweil wohl so, dass im genetischen Code im Wesentlichen die Baupläne für die Grundbausteine (Neuronen und z.B. ihre Organisation zu cortikalen Säulen) des Gehirns verschlüsselt sind und die Anweisung, wie oft diese zu vervielfältigen sind. Bei einem Embryo mit voll entwickeltem Gehirn sind sozusagen nur die Hardware und ein einfaches Betriebssystem vorhanden. Alles andere muss erlernt werden. Dieser Prozess beginnt in begrenztem Umfang durchaus schon vor der Geburt.

Unser Denken besteht im Wesentlichen aus der Erkennung und der Manipulation von Mustern. Insgesamt können wir bis zu 300 Millionen verschiedene Muster unterscheiden. Zur Speicherung und Verarbeitung werden jeweils um die 100 Neuronen verwendet. Obwohl die Verarbeitungsfrequenz in unserem Gehirn nur zwischen 100 und 1000Hz liegt und damit mehr als eine Million mal kleiner als in unseren Computern ist, schafft unser Gehirn eine Mustererkennung innerhalb von Sekundenbruchteilen. Der Grund dafür ist, dass hier die Datenverarbeitung extrem parallel erfolgt. Nach Kurzweil ist der Algorithmus nach dem dies geschieht, mathematisch am bestem mit dem so genannten Hierarchical hidden Markov model (HHMM) zu beschreiben. Es handelt sich dabei um ein künstliches neuronales Netz, das mit zum Teil statistischen Methoden aus einer Datenmenge bestimmte Muster erkennen kann.

Beim Lesen von Text muss man sich das z.B. so vorstellen, dass in der untersten Hierarchieebene zunächst einfache geometrische Muster aus den vom Sehnerv kommenden Signalen erkannt werden wie z. B: Linien, Bögen und Kreise, wobei bereits in der Netzhaut des Auges eine Datenkompression erfolgt. In der nächsten höheren Ebene werden daraus Buchstaben erkannt. Danach erfolgt die Erkennung von Wörtern, dann folgen Sätze. In der höchsten Stufe werden wir uns des Inhalts eines Satzes bewusst. Alle diese Denkprozesse laufen ausschließlich algorithmisch ab und obwohl sie damit deterministisch sind, können trotzdem Zufälle im Rahmen des so genannten deterministischen Chaos eine Rolle spielen. Das Denken des menschlichen Gehirns und die Abläufe in ähnlich aufgebauten künstlichen neuronalen Netzen lassen sich daher nicht vollständig vorhersagen.

Das Material unserer Nervenzellen wird im Zeitrahmen von einigen Monaten vollständig ausgetauscht. Dies hat aber keinen Einfluss auf die Fähigkeiten der Informationsverarbeitung der Zelle. Denken ist auf der untersten Hierarchieebene nichts anderes als Symbolverarbeitung, so wie sie auch in Computern stattfindet und sie ist unabhängig von einer bestimmten Materie.

Nach der Church-Turing-These ist die Fähigkeit zur Lösung von algorithmischen Problemen unabhängig von dem konkreten Aufbau einer Hardware, solange es sich um eine universelle Rechenmaschine mit genügend Speicherplatz handelt. Daraus und aus der erwähnten Tatsache, dass die Abläufe innerhalb der Neuronen algorithmisch ablaufen, resultiert, dass das menschliche Gehirn grundsätzlich nicht mehr Probleme lösen kann als jede andere universelle Rechenmaschine und dieses wiederum heißt im Umkehrschluss, dass es prinzipiell möglich sein muss, einen Computer mit sämtlichen geistigen Fähigkeiten auszustatten, die der Mensch hat, einschließlich des Bewusstseins.

Maschinen lernen denken

Im zweiten Teil des Buches zeigt der Autor, wie nun die Erkenntnisse der Hirnforschung dazu genutzt werden können, Computerprogramme zu erstellen, die wie das menschliche Denken funktionieren.

Die Hauptanwendungsgebiete liegen derzeit in der Mustererkennung. So basiert das Spracherkennungsprogramm Siri, das auf dem iPhone 4S und dem iPhone 5 installiert ist, auf einem künstlichen neuronalen Netz, das lernfähig ist und sich mit der Zeit auf seinen Nutzer einstellt. Microsoft stattet jetzt seine neuen Smartphones mit einem verbesserten Spracherkennungsprogramm aus, das doppelt so schnell arbeitet wie Siri und um 15 Prozent zuverlässiger sein soll.

Eines der derzeit am weitesten fortgeschrittenen Programme in Bezug auf die Simulation menschlichen Denkens ist „Watson“ von der Firma IBM. Es ist in der Lage, ganze Sätze zu verstehen und darauf sinnvolle Antworten zu geben. Bei dem im amerikanischen Fernsehen beliebten Spiel „Jeopardie“ hat es im Jahr 2011 besser abgeschnitten als die besten menschlichen Kandidaten. Bei diesem Spiel muss auf einen Satz, der eine Antwort darstellt, die zugehörige richtige Frage gefunden werden. Das Programm kann durch einen Lernprozess für verschiedenste Fähigkeiten optimiert werden. Eine kleine Gruppe bei IBM hat dem Programm inzwischen beigebracht, neue Kochrezepte zu erstellen. Die menschlichen Geschmackseindrücke wurden dabei vorher einprogrammiert.

Ray Kurzweil selbst hat jahrzehntelange Erfahrung im Programmieren von lernfähigen Mustererkennungsprogrammen. Nach seiner Erfahrung arbeiten diese Programme dann am besten, wenn man sie in ihrem Aufbau als neuronalem Netz dem menschlichen Gehirn nachempfindet. Für die jeweilige Aufgabe kann man gewisse Grundregeln einprogrammieren. Die Feinheiten erlernt das Programm dann selbstständig durch seinen praktischen Gebrauch. Zusätzlich kann man noch einen evolutionären Optimierungsvorgang einbauen, der die Verschaltung des Netzes für die jeweilige Aufgabe optimiert, so wie das auch im menschlichen Gehirn geschieht.

Auf die Frage, wann es gelingt, Computer mit allen menschlichen geistigen Fähigkeiten einschließlich des Ich-Bewusstseins auszustatten, gibt Kurzweil das Jahr 2029 an. Zu diesem Zeitpunkt wird nach seiner Meinung das erste Computerprogramm den so genannten Turing-Test bestehen. Was danach geschieht, hat er ausführlich in seinem Buch „The Singularity is Near“ beschrieben. Es wird nach seiner Meinung eine rasante Vervielfachung der Rechenleistung und der Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz geben, die gewaltige Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben werden.

Die Kritiker

Wie nicht anders zu erwarten, gibt es auch heftige Kritik an den Positionen von Kurzweil, zumal für viele die mögliche Machbarkeit von künstlichem Bewusstsein eine Kränkung ihres Menschenbildes darstellt. Insbesondere im deutschsprachigen Raum gibt es eine tief greifende Aversion gegen die Ideen von Ray Kurzweil und generell gegen den Transhumanismus und den Posthumanismus. Wahrscheinlich ist einer der Gründe, dass die meisten immer noch einer christlichen Ethik und einem Menschenbild verbunden sind, die ihre Ursprünge in der Bronzezeit haben. Daneben gibt es ein tiefes und zum Teil irrationales Misstrauen gegenüber neuen Technologien. So glauben religiös oder metaphysisch inspirierte Intellektuelle nach wie vor an den Dualismus von Leib und Seele bzw. Geist und Körper. Sie können aber keine wirklich nachvollziehbaren rationalen Argumente für ihre Position anführen. Insofern ist das eine reine Glaubensfrage.

Den Naturwissenschaften etwas mehr zugeneigte Geisteswissenschaftler vertreten häufig die Position, dass man zwar womöglich alle geistigen Fähigkeiten des Menschen mit einem Computer simulieren kann, aber die Simulation immer noch etwas anderes ist als die Wirklichkeit, ähnlich wie die Simulation des Wetters etwas anderes ist als das Wetter selbst. Prominenter Vertreter dieser Position ist der amerikanische Philosoph John Searle. In  seinem Buch „Die Wiederentdeckung des Geistes“ geht er zwar davon aus, dass das menschliche Gehirn im Rahmen des Naturalismus vollständig beschrieben werden kann als eine Art Bio-Computer, dass aber seine Fähigkeiten nicht mit der künstlichen Intelligenz gleichrangig nachvollzogen werden können.

Der Denkfehler, der dieser Position zugrunde liegt, ist die Ansicht, dass unsere geistigen Fähigkeiten an eine bestimmte Materie gebunden sind. Im Kern ist aber Denken nichts anderes als Informationsverarbeitung und dies geschieht auf der untersten Ebene als reine Symbolverarbeitung und dies ist bereits ein abstrakter Vorgang. Ray Kurzweil schreibt dazu:

Wenn das Verstehen von Sprache und anderer Phänomene über statistische Analysen (wie z.B. bei moderner Spracherkennungssoftware) nicht als wahres Verstehen zählt, dann haben Menschen auch kein wahres Verstehen.

Fachleute der künstlichen Intelligenz an deutschen Hochschulen und Universitäten bezeichnen die Ansichten von Kurzweil häufig als überzogen optimistisch in Bezug auf die Machbarkeit der künstlichen Intelligenz und ihrer Auswirkungen auf die Menschheit. Allerdings geht Kurzweil bereits in seinem Buch „The Singularity is Near“ neben den großen Chancen auch auf die Gefahren der neuen Technologien ein. Insofern ist der Vorwurf nicht ganz zutreffend.

Für seine Kritiker hat er eine Analyse seiner eigenen Vorhersagen aus seinem Buch „The Age of Spiritual Maschines“ gemacht. Das Buch erschien 1999. Von seinen 147 einzelnen dort gemachten Vorhersagen für das Jahr 2009 waren 78 Prozent voll zutreffend. Weitere 8 Prozent waren im Prinzip richtig, traten aber bis zu 2 Jahre später ein als vorhergesagt. 12 Prozent waren nur teilweise korrekt und 2 Prozent waren falsch. Zu den falschen Vorhersagen gehört, dass es bis 2009 Autos gibt, die ohne Fahrer betrieben werden können. Aber selbst in diesem Fall muss man zugestehen, dass das Problem technisch durchaus bereits gelöst ist. So hat Google im Oktober 2010 einen elektrisch angetriebenen Lieferwagen fahrerlos über 13.000 km von Italien nach China fahren lassen. Im Moment liegt das Problem zur generellen Einführung dieser Technik eher bei den fehlenden gesetzlichen Regelungen. Man muss sich angesichts dieser Zahlen fragen, wer von den Kritikern eine bessere Statistik seiner eigenen Vorhersagen vorlegen kann. Bill Gates meint jedenfalls dazu:

Ray Kurzweil ist von denen Personen, die ich kenne, am besten geeignet, die Zukunft der künstlichen Intelligenz vorauszusagen.

Deutsche Bedenkenträger

Während Pioniere wie Ray Kurzweil den Weg in eine Zukunft weisen mit weniger Leid und mehr Lebensqualität, sehen selbsternannte Ethikexperten in unserem Land schon bei der PID die Menschenwürde in Gefahr. Einer der prominenten deutschen Vertreter der Bedenkenträger gegenüber neuen Technologien ist der Philosoph Jürgen Habermas. In seinem Buch „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ bezeichnet die Anhänger des Trans- und des Posthumanismus als „ausgeflippte Intellektuelle“. Ihm selbst muss man allerdings bescheinigen, dass er hier über Dinge schreibt, von denen er nicht die geringste Ahnung hat.

Bei der Diskussion der ethischen Grundlagen neuer Technologien und ihrer gesetzlichen Regelung hat der Deutsche Ethikrat einen großen Einfluss. Er hat sich im letzten Jahr einen Namen gemacht mit der Empfehlung an den Bundestag, einem Gesetz zur Regelung der Genitalverstümmelung von Jungen zuzustimmen. Mit solchen Leuten, bei denen nicht die Verminderung sondern die Verherrlichung des Leids im Vordergrund steht und die einen Weg zurück ins Mittelalter beschreiten, werden wir die Zukunft nicht meistern können. Dennoch werden auch sie die Entwicklung nicht wirklich aufhalten können.

Ray Kurzweil meint dazu, dass sich die neuen Technologien, wenn überhaupt, dann nur in totalitären Staaten aufhalten werden lassen. Wir werden diese zukünftigen Herausforderungen nur meistern, wenn wir ein wissenschaftsfundiertes Weltbild anerkennen und uns von einem metaphysischen bzw. religiösen Menschenbild endlich befreien.

Quellenangabe
Dieser Artikel wurde ursprünglich von Bernd Vowinkel bei Humanistischer Pressedienst publiziert.
Kurzweil, R. (2012): How to Create a Mind: The Secret of Human Thought Revealed. New York: Viking.
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Gretchenfrage an den Naturalisten https://gbs-schweiz.org/blog/gretchenfrage-an-den-naturalisten/ https://gbs-schweiz.org/blog/gretchenfrage-an-den-naturalisten/#respond Tue, 05 Nov 2013 15:00:17 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=5533 Die 90-seitige Broschüre „Gretchenfrage an den Naturalisten“ wurde im Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung von dem Physiker und Philosophen Prof. Dr. Gerhard Vollmer erarbeitet. Sie gibt eine ganz hervorragende, kompakte und allgemeinverständliche Übersicht der grundlegenden Positionen des Naturalismus. Alle wichtigen Kernpunkte unseres wissenschaftlich fundierten Weltbildes und die Grundlagen einer naturalistischen Ethik werden angesprochen. Im Folgenden lesen Sie die Rezension von Herrn Dr. Bernd Vowinkel.

Der Naturalismus geht davon aus, dass es in der Welt ausschließlich natürliche Dinge und Eigenschaften gibt. Auf eine einfache Formel gebracht, behauptet der Naturalismus, dass es in der Welt mit rechten Dingen zugeht, d.h. es läuft alles im Rahmen von Naturgesetzen ab. Er steht damit im Widerspruch zum Theismus, Spiritualismus und Okkultismus. Begründet wird der Naturalismus damit, dass die großen Erfolge der Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten gezeigt haben, dass die empirische Methode der Gewinnung von Erkenntnis über die reale Welt besonders erfolgreich ist. Wunder, d. h. Verletzungen von bekannten Naturgesetzen konnten bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Für den Naturalismus spricht, dass alles, was existiert, aus natürlichen Bausteinen und Kräften besteht. Auf der niedrigsten Ebene sind das die Elementarteilchen, die vier Grundkräfte der Natur und das was man allgemein als Information bezeichnen könnte. Aus diesen Dingen hat sich im Laufe der Evolution das Leben bis hin zum Menschen entwickelt. Unser wissenschaftliches Weltbild hat zwar noch immer Lücken, aber sie werden immer kleiner und weniger. Ob sie jemals ganz verschwinden werden, kann man nicht sicher vorhersagen, aber das Füllen dieser Lücken mit religiösem oder esoterischem Hokuspokus wird die Menschheit sicher nicht weiter bringen.

Den in Deutschland von der Giordano-Bruno-Stiftung vertretenen evolutionären Humanismus könnte man auch als eine Variante des naturalistischen Humanismus bezeichnen. Damit ist ein wissenschaftlich fundierter Naturalismus der Grundpfeiler für die vertretene Position der Stiftung. Wegen der Objektivität der Naturwissenschaften sollte man hier eher von einem objektiven Weltbild als von einer subjektiven Weltanschauung reden. Insofern unterscheidet sich die Stiftung von anderen humanistischen Vereinigungen, die stärker geneigt sind, metaphysische Begründungen und Herleitungen für ihre Grundsätze zu akzeptieren.

Warum es etwas gibt, und wie es entstanden ist

Im ersten Teil der Schrift geht Vollmer auf die abstrakten Gegenstände wie Logik, Mathematik und Metaphysik ein, gefolgt von den Problemen des Realismus und dem Aufbau der Welt. Die von vielen als philosophisch besonders tiefsinnig gehaltene Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, ist nach Vollmer recht leicht aufzuklären. Eine Antwort auf die Frage nach der Ursache für die Existenz der Welt kann nur von außerhalb der Welt gegeben werden. Da die Welt aber definitionsgemäß alles umfasst, was es gibt, kann es nichts Außerweltliches geben. Fazit: entweder ist die Frage sinnlos oder unbeantwortbar. Fest steht damit jedenfalls, dass die Frage nicht besonders tiefsinnig ist.

Bei den kosmologischen Fragen richtet sich der Naturalist nach den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Kosmologie. Auf die zentrale Frage, wie das Universum entstanden ist, gibt es inzwischen zumindest gut fundierte wissenschaftliche Hypothesen, wie sie z.B. von dem amerikanischen Physiker Lawrence Krauss vertreten werden, siehe: „Ein Universum aus Nichts„. Gerade im Bereich der Kosmologie und der Physik der Elementarteilchen erleben wir derzeit einen rasanten Erkenntnisgewinn, der nicht zuletzt auf die großen Fortschritte im Bereich der Instrumentierung zurückzuführen ist.

Ethische Grundsätze

Dass sich der Naturalist bei Fragen zum physischen Weltbild an den Ergebnissen der Naturwissenschaften orientiert, ist selbstverständlich, aber wie sieht es mit ethischen und moralischen Grundsätzen aus? Nach Vollmer gibt es für solche Grundsätze keine Letztbegründungen. Das gilt dann allerdings auch für göttliche Gebote und Verbote, denn es gibt keinen überzeugenden Nachweis, dass sie wirklich von einer Gottheit stammen. Eine relative Begründung für moralische Grundregeln ist jedoch möglich. Dabei geht der Naturalist neben erprobten Prinzipien, wie der Verallgemeinerbarkeit, der Goldenen Regel, Kants Kategorischem Imperativ und dem Prinzip der Fairness von einem pragmatischen Standpunkt aus. Regeln die das Zusammenleben in der Gemeinschaft und das Glück einzelner befördern, ohne dass sie auf Kosten anderer gehen, gelten als gute Regeln. Auf religiöse oder metaphysische Letztbegründungen wird dagegen verzichtet. Es gibt nicht das Gute und das Böse schlechthin, sondern es gibt Freude und Leid und daran sollte man sich bei der Suche nach Werten orientieren. Auch wenn die Wissenschaft nicht unmittelbar moralische Werte begründen kann, so kann sie doch das Verhalten von Menschen auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen und damit zum Verständnis beitragen.

Künstliche Intelligenz und die Willensfreiheit

In humanistischen Kreisen wird die Menschenwürde überwiegend als besonders hohes Gut geachtet. Wegen der damit herausgestellten Besonderheit des menschlichen Geistes wird dann auch von vielen die Machbarkeit der künstlichen Intelligenz bis hin zu Maschinen mit Bewusstsein für völlig unmöglich gehalten. Dieser Position erteilt Vollmer eine Absage:

Da für den Naturalisten das Gehirn und seine Leistungen völlig natürlich sind, hält er auch künstliche Intelligenz für möglich, in Teilbereichen sogar schon verwirklicht. Soweit allerdings Intelligenz an Bewusstsein gebunden ist, sieht er vorerst keine Möglichkeit, künstliche Intelligenz zu schaffen. …Einen Grund, warum es auf Dauer unmöglich sein sollte, sieht der Naturalist allerdings nicht.

Die Begründung liegt darin, dass aus Sicht des Naturalisten, im Gehirn keine Prozesse ablaufen, die über die klassische Physik und der darauf aufbauenden Biochemie hinausgehen. Diese laufen aber vollständig algorithmisch ab und damit sind die Prozesse prinzipiell mit einem Computer nachvollziehbar. Selbst wenn das Gehirn unmittelbaren Zugriff auf quantenmechanische Prozesse hätte, was im Moment eher unwahrscheinlich erscheint, wäre das kein Argument gegen die Machbarkeit der künstlichen Intelligenz, weil diese Prozesse mittlerweile ebenfalls in Maschinen (Quantencomputer) nachvollzogen werden können. Klar ist damit auch sofort, dass es die Willensfreiheit nach der strengen Definition von Immanuel Kant nicht geben kann, denn sie würde eine Physik erfordern, die nichtalgorithmisch sein müsste. Der ontologische Indeterminismus, wie er in der Quantenphysik vermutet wird, würde zur Begründung eines freien Willens auch nicht allzu viel nutzen, denn dann wären unsere „freien Entscheidungen“ rein zufällig.

Kritik am Realismus

Die Darstellung des Naturalismus ist in der Broschüre so überzeugend, dass man sich fragt, wie man überhaupt den Naturalismus in Frage stellen kann. In Diskussionen mit Verfechtern des religiösen Glaubens kommt häufig das Argument, dass der Naturalismus ja auch nicht ohne Dogmen auskäme. So seien die Prämissen des Naturalismus, nämlich der Realismus und der Rationalismus Annahmen, die man glauben müsse. Vollmer geht auf diese Problematik ein und vertritt den Standpunkt, dass man in der Tat diese beiden Prämissen nicht beweisen kann, dass es aber gute Argumente gibt, die für diese Prämissen sprechen. So sei der ontologische Realismus zwar keine empirisch prüfbare, wohl aber eine kritisierbare metaphysische Hypothese und gehöre damit zur guten Metaphysik. Es ist nämlich möglich, dass Theorien über die Wirklichkeit scheitern, weil die Welt tatsächlich anders ist als angenommen. Bei religiösen Dogmen ist das dagegen in der Regel nicht möglich, weil sie keinen konkreten Bezug zur Wirklichkeit haben. Diese Dogmen muss man dann dementsprechend als schlechte Metaphysik einstufen. Vollmer schreibt dazu:

Ist eine Theorie tatsächlich nicht prüfbar, so sollte sie wenigstens anderweitig kritisierbar sein. Diese Forderung gilt für alle wissenschaftlichen, ja sogar für alle rationalen Unternehmungen; Kritisierbarkeit ist danach das beste Kriterium für Wissenschaftlichkeit und allgemein für Rationalität. Dagegen ist Dogmatismus keine rationale Einstellung.

Gerade in den letzten Jahren sind durch die Ergebnisse der modernen Physik Zweifel am Realismus aufgekommen. Dinge wie Materie, Zeit und Raum, die im althergebrachten Materialismus die Grundstruktur der Wirklichkeit darstellten, verlieren ihren absoluten Charakter. Einen primitiven Materialismus, bei dem es außer Materie und Energie nichts gibt, muss man daher als überholt ansehen. Vollmer argumentiert:

Sollte sich herausstellen, dass die Grundstrukturen unserer Welt nicht Raum und Zeit sind, sondern etwa die Strings der Stringtheorie oder die Schleifen der Loop-Quantengravitation, so wäre das weder für den Realisten noch für den Naturalisten bedenklich.

Entscheidend ist hier, dass sich der Naturalismus an die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften anpasst, während sich die Religionsvertreter in der Regel dagegen wehren.

Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man nicht mehr daran glaubt.

Philip K. Dick

Der Vorwurf der Wissenschaftsgläubigkeit

Ein weiteres häufig vorgebrachtes Argument gegen den Naturalismus ist das der Wissenschaftsgläubigkeit. Wissenschaft und hier insbesondere die Naturwissenschaften, so das Argument, kann nicht alles ergründen. Menschliche Dinge wie Bewusstsein, Wille und Gefühle einerseits und die Produkte des menschlichen Geistes z.B. im Bereich der Kunst und der Philosophie andererseits, entziehen sich einer wissenschaftlichen Beschreibung. Daneben brauchen wir, um Wissenschaft überhaupt betreiben zu können, weltanschauliche Rahmenbedingungen und es wird in Zweifel gezogen, dass man diese selbst wissenschaftlich erklären kann, weil hier eine gewisse Selbstbezüglichkeit ins Spiel kommt.

Das Hauptziel der Naturwissenschaften ist die Reduktion verschiedener komplexer Phänomene auf gemeinsame einfache Grundregeln. Damit gewinnt man in der Regel eine tiefere Einsicht in die Vorgänge. Die oben aufgezählten Dinge widersetzen sich aber hartnäckig einer Reduktion auf einfache Regeln. Man spricht hier von Emergenz. Das bedeutet, dass das betrachtete System neue Eigenschaften hat, die nicht unmittelbar aus den Eigenschaften seiner Bausteine abgeleitet werden können und umgekehrt auch nicht auf diese reduziert werden können. So ist z.B. die Reduktion von Bewusstsein auf die Bewegung und die Eigenschaften der beteiligten Elementarteilchen völlig undenkbar. Umgekehrt ist aber durchaus möglich, dass solche komplexen Phänomene von den Abläufen des Mikrokosmos her determiniert sind (Mikrodeterminismus). Aber auch hier können wir eine völlige Determiniertheit wohl weitgehend ausschließen, weil Phänomene auf der Ebene der Quantenmechanik zu völlig zufälligen Abläufen führen können. Nach Vollmer ist der Naturalist keineswegs auf den Reduktionismus angewiesen.

Es kann also durchaus sein, dass wir bei der Erklärung hochkomplexer Systeme auf die Grenzen einer wissenschaftlichen Erklärung stoßen. Die Frage an die Kritiker des Naturalismus ist aber, welche Erkenntnismethoden und Möglichkeiten sie der Wissenschaft entgegenzusetzen haben. Teile der Wirklichkeit, die den Naturwissenschaften womöglich für immer verborgen bleiben, können auch Theologie und Metaphysik nicht ergründen, denn sie verfügen nicht über bessere Erkenntnismethoden. Im Gegenteil, viele ihrer Glaubensgrundsätze und vermeintlichen Erkenntnisse haben sich mittlerweile als Irrweg herausgestellt. Dazu kommt, dass sie über Jahrhunderte hinweg unser Bild der Wirklichkeit vernebelt haben und teilweise sogar die naturwissenschaftliche Forschung behindert haben. Nach Vollmer gilt bei der Erkenntnis grundsätzlich „so wenig Metaphysik wie möglich“.

Naturwissenschaftlich Ungebildete bringen zuweilen das Argument, dass die physikalischen Theorien ja eben auch nur Theorien seien, deren Wahrheitsgehalt durchaus zweifelhaft sei. Daneben werde man in seiner Alltagserfahrung wohl kaum mit der Quantenphysik oder der Relativitätstheorie in Berührung kommen. Dabei übersehen sie, dass die inzwischen weit verbreiteten Navigationsgeräte Bauteile beinhalten, zu deren Entwicklung eine tiefe Kenntnis der Quantenphysik notwendig ist und dass in die Positionsberechnung, die in den Geräten durchgeführt wird, sowohl die Effekte der speziellen als auch der allgemeinen Relativitätstheorie eingehen, da ansonsten die Ergebnisse viel zu ungenau wären. Wenn es ein besonders überzeugendes Argument für den Naturalismus gibt, dann ist es genau dieses: Mit der Kenntnis der Naturgesetze können wir Apparate bauen, die tatsächlich in der Realität funktionieren. Im Gegensatz dazu hat z.B. nach wissenschaftlichen Studien das Beten keinerlei Wirkung.

Eine Liste geistiger Fehlschlüsse und Verirrungen

Am Ende der Schrift listet Vollmer zur besseren Übersichtlichkeit noch einmal alle die Dinge auf, die es für den Naturalisten nicht gibt und solche, die er als Pseudowissenschaften einstuft. Die erschreckend lange Liste ist ein Zeugnis der Vielfalt geistiger Verirrungen der Menschheit. Dazu gehören auch Dinge wie Seele, Willensfreiheit und ein objektiver Sinn des Lebens.

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