Tobias Pulver – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Thu, 10 Dec 2015 11:13:03 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Die Ice Bucket Challenge – Eine verpasste Gelegenheit? https://gbs-schweiz.org/blog/die-ice-bucket-challenge-eine-verpasste-gelegenheit/ https://gbs-schweiz.org/blog/die-ice-bucket-challenge-eine-verpasste-gelegenheit/#respond Thu, 18 Sep 2014 15:40:19 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8704 Die Ice Bucket Challenge gegen Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), eine degenerative Erkrankung des Nervensystems, war ein voller Erfolg: Über 100 Millionen USD wurden durch eine in den sozialen Medien viral gegangene Aktion für die ALS Association innerhalb weniger Wochen für die Bekämpfung der Krankheit gesammelt. Über 3 Millionen Menschen haben gespendet, diverse Prominente übernahmen vorbildhaft gesellschaftliche Verantwortung. Eigentlich hervorragend, oder? Ja, durchaus – denn alle wären wohl froh, wenn ein Heilmittel für diese Krankheit gefunden werden könnte. Und doch steht die Ice Bucket Challenge in vielerlei Hinsicht auch symbolisch für einige gravierende Mängel im gesellschaftlichen Denken über Wohltätigkeit.

Weshalb finden wir ALS tragisch? Die Antwort scheint offensichtlich: Weil die Betroffenen massiv darunter leiden! Und weil die Angehörigen oft auch stark mitleiden. Die Sympathie für die Ice Bucket Challenge lässt sich im Prinzip auf einen einfachen Syllogismus reduzieren: Leiden ist schlimm und soll verhindert werden (p1), ALS bedeutet Leiden (p2), also ist ALS schlimm und soll verhindert werden (c). Das implizite Ziel beim Spenden an die ALS Association und beim Partizipieren bei der Ice Bucket Challenge, wäre sodann, anderen zu helfen, unnötiges Leid zu verhindern.

Doch neben ALS gibt es viele weitere Gründe für schreckliches Leiden auf der Welt, und einige davon verursachen wesentlich mehr Leid als ALS. Der entscheidende Punkt ist, dass sich manche dieser Ursachen wesentlich kostengünstiger bekämpfen lassen als ALS. Dies zeigt unter anderem die Forschung des Hilfswerk-Evaluators GiveWell, der mit wissenschaftlicher Methodik die Kosteneffektivität verschiedener Hilfswerke quantifiziert. Mit einer Spende an die Schistosomiasis Control Initiative (SCI) beispielsweise kann bereits für rund 60 Rappen ein Kind entwurmt werden. Das bedeutet nicht nur einen immensen unmittelbaren Anstieg der Lebensqualität, sondern verbessert im gleichen Zug auch die langfristigen Perspektiven der Kinder erheblich: Entwurmungen sind eine von zwei herausragend effektiven Massnahmen, um die durchschnittliche Anzahl Schuljahre, die ein Kind absolviert, zu erhöhen – was sie (vielleicht überraschenderweise) auch zu einer sehr attraktiven Bildungsmassnahme macht.

Bei der Against Malaria Foundation (AMF) kann für lediglich 5 Franken die Verteilung eines Bettnetzes sichergestellt werden, was ebenfalls eine äusserst kosteneffektive Massnahme darstellt. Die Kosten für Betreuung von ALS-Patienten betragen hingegen durchschnittlich rund 200,000 USD pro Jahr. Für den gleichen erwarteten Gewinn an Lebensqualität muss damit bei einer Spende an die ALS Association im Vergleich zu den von GiveWell empfohlenen Top-Charities ein deutliches Vielfaches an Geld investiert werden. Oder umgekehrt: Mit dem Geld, das für die ALS Association gesammelt wurde, hätte ein grosses Vielfaches an Leid verhindert werden können, wären die Spenden an kosteneffektivere Hilfswerke geflossen! Das heisst nicht, dass Geld für die ALS Association eine schlechte Investition ist – im Gegenteil: Jede Investition, die mit der Absicht getätigt wird, anderen zu helfen, sollte grundsätzlich als gute Investition betrachtet werden. Das Problem ist vielmehr: Es ginge noch wesentlich besser!

Das Prinzip der Kosteneffektivität bzw. der Kosten-Nutzen-Kalkulation ist im Grundsatz völlig unumstritten. Bei der Wahl des Menus, des Transportmittels, beim Kauf von Kleidung oder des Fernsehers – jeder von uns wägt täglich zwischen erwarteten Erträgen und Kosten ab. Ausgerechnet im Wohltätigkeitssektor wird jedoch weitgehend darauf verzichtet, Kosten-Nutzen-Kalkulationen anzustellen. Doch gerade wenn es nicht bloss um monetäre Profite geht, sondern anderen geholfen bzw. Leid verhindert werden soll, sollten wir ein besonders starkes Interesse daran haben, mit den beschränkten verfügbaren Ressourcen möglichst viel zu bewirken!

Zu den klassischen Kriterien, anhand deren Wohltätigkeitsorganisationen üblicherweise beurteilt werden, zählen insbesondere Transparenz und der sogenannte Overhead, d.h. der Anteil des Budgets, der nicht direkt in Projekte fliesst, sondern für Marketing, Administration, Löhne und Ähnliches verwendet wird. Umfängliche Transparenz gehört auch für eine Top-Charity-Empfehlung von GiveWell zu den Voraussetzungen, da ohne sie keine zuverlässige Bewertung der Kosteneffektivität möglich ist. Neben Transparenz ist der Overhead das Kriterium, auf dessen Basis ein grosser Teil von SpenderInnen die Spendendestination wählt. Viele Hilfsorganisationen werben denn auch stark mit einem vergleichsweise tiefen Overhead. Wenn wir jedoch an einer möglichst grossen Wirkung unserer Spende interessiert sind, dann sollte der Overhead bei der Wahl der Hilfsorganisation keine Rolle spielen: So ist es z.B. gut möglich, dass eine Organisation gerade deshalb sehr viel bewirkt, weil sie viel Geld in Marketing investiert – und so letztlich ein grösseres Spendenvolumen erzielen kann. Oder weil sie ihren Mitarbeitern einen (für den Charity-Sektor) vergleichsweise höheren Lohn bezahlt, dadurch aber möglicherweise kompetentere und motiviertere Leute gewinnt, die bessere Arbeit leisten. Weiter könnte sie auch einfach viel Geld in Forschung investieren, um die effektivsten Hilfsmassnahmen zu finde. Ein höherer Overhead mag intuitiv ein schlechtes Signal sein, doch es ist wichtig, zu sehen, dass es unter vielen Umständen auch ein Fehler sein könnte, einen tieferen Overhead zu haben, wenn gerade der höhere Overhead erst ermöglicht, dass eine Organisation vergleichsweise sehr viel Leid verhindern kann! Ob eine Organisation einen hohen oder niedrigen Overhead hat, ist also letztlich irrelevant, wenn das Ziel einer Spende eigentlich ist, möglichst viel zu bewirken. Dann ist das einzig relevante Kriterium die Kosteneffektivität des Hilfswerkes: Wo kann ich mit meinem Geld am meisten helfen?

Die heutige Spendenkultur verbietet es zu weiten Teilen, zu kritisieren, wer grundsätzlich mit guten Absichten handelt (und spendet). Und das mag auch durchaus teilweise Sinn machen, denn natürlich könnte enorm viel bewirkt werden, wenn all jene zum Spenden bewegt werden könnten, die trotz der unmittelbaren Not von über einer Milliarde in extremer Armut lebender Menschen überhaupt nichts tun. Und tatsächlich sollten auch grundsätzlich diejenigen Applaus erhalten, die sich überhaupt für gute Zwecke einsetzen. Doch wenn wir es wirklich ernst meinen mit dem Helfen, dann müssen wir – letztlich zum Wohle der Bedürftigen – auch bereit sein, das Tabu zu brechen, nicht zu kritisieren, wer in guten Absichten handelt. Wir sollten uns nicht damit begnügen, mit einem guten Gefühl, likes, shares und retweets belohnt zu werden, wenn wir uns für eine (beliebige) gute Sache einsetzen. Stattdessen sollten wir viel stärker daran interessiert sein, wievie unsere Spende bewirkt hat – und wieviel sie womöglich hätte bewirken können!

Und vielleicht sollten wir darüber hinaus auch überdenken, welches Minimum an Wohltätigkeit angesichts des Ausmasses des weltweiten verhinderbaren Leides für so privilegierte Menschen, wie z.B. die meisten Leser es sind, eigentlich selbstverständlich sein sollte. Doch das ist eine längere Diskussion.

So könnte beispielsweise eine alternative Ice Bucket Challenge aussehen:

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Vom Mittel zum Zweck – Pathozentrismus und Sentientismus https://gbs-schweiz.org/blog/vom-mittel-zum-zweck-pathozentrismus-und-sentientismus/ https://gbs-schweiz.org/blog/vom-mittel-zum-zweck-pathozentrismus-und-sentientismus/#comments Sun, 25 May 2014 16:37:45 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7218 Wie sinnvoll und ethisch relevant sind Konzepte wie «Natur», «Natürlichkeit» und «Nachhaltigkeit»? Weshalb ist Politik irrational, wie könnte rationale Politik aussehen, und welche Rolle spielt dabei Kooperation? Dies ist der zweite Beitrag einer Sequenz, die sich mit Fragen wie diesen auseinandersetzt. Im ersten Beitrag wurde argumentiert, dass Dinge wie «Nachhaltigkeit», «Natur» und «Natürlichkeit» keinen intrinsischen Wert besitzen. Einen instrumentellen Wert hingegen können sie durchaus aufweisen. Doch welche Eigenschaften sind es, die etwas intrinsisch wertvoll, also zu einem Selbstzweck machen – und was genau könnte konkret einen solchen Selbstzweck darstellen? 

Das einfache, man könnte sagen naive Konzept von Nachhaltigkeit, welches im ersten Beitrag der Sequenz zur Einführung der intrinsich vs. instrumentell-Differenzierung diskutiert wurde, ist heute weitgehend veraltet. Das überrascht nicht, denn es entspricht dem aus dem frühen 18. Jahrhundert stammenden «klassischen Nachhaltigkeitsverständnis» nach Hans Carl von Carlowitz. Es schreibt Dingen wie «Natur», «Artenvielfalt» & Co. einen Selbstzweck zu und ist damit ein biozentrisches Konzept. Mittlerweile sind biozentrische Auffassungen von Nachhaltigkeit auf der wissenschaftlichen Ebene allerdings weitgehend überholt. (Ganz im Gegenteil dazu ist die biozentrische Sicht gesellschaftlich durchaus weiterhin eine übliche Position…)

An die Stelle der Carlowitzschen Auffassung von Nachhaltigkeit ist heute die «Brundtland-Definition» getreten. Dieses moderne und wesentlich komplexere Verständnis von «nachhaltiger Entwicklung» bietet einige interessante Anknüpfungspunkte zur Veranschaulichung der eingangs aufgeworfenen Fragen, und soll deshalb im Folgenden etwas genauer betrachtet werden.

Nachhaltige Entwicklung und Ethik

Im Brundtland-Bericht der UNO-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987 wurde das moderne Verständnis von «nachhaltiger Entwicklung» wie folgt definiert:

1. „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“

Eine zweite, alternative Definition, lautet:

2. „Im Wesentlichen ist dauerhafte Entwicklung ein Wandlungsprozess, in dem die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrössern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.“

Eingangs wurde die Frage aufgeworfen, was ein mögliches eigentliches ethisches Ziel darstellen und umfassen könnte – im Gegensatz zu einem lediglich vermeintlich eigentlichen Ziel, wie es gemäss der Argumentation hier Natur, Artenvielfalt & Co sind. Im Folgenden wird die Brundtland-Definition auf drei Aspekte heruntergebrochen, die hinsichtlich dieser Frage diskutiert werden sollen. Die drei Punkte sind:

  1. Nachhaltigkeit im Sinne der Generationengerechtigkeit ist ein zukunftsorientierter Begriff.
  2. Es geht dabei letztlich stets um die Befriedigung von Bedürfnissen.
  3. Der Biozentrismus der klassischen Definition wurde durch eine anthropozentrische Perspektive ersetzt.

Die ethische Relevanz der Zukunft

Die in der Definition beschriebene Generationengerechtigkeit (1) impliziert, dass die Zukunft, auch über unsere eigene Existenz hinaus, für unsere ethischen und politischen Überlegungen relevant ist – oder zumindest sein sollte. Denn mit welchen legitimen betonenGründen sollten wir Lebewesen ethisch diskriminieren, bloss weil sie zufällig zu einem anderen Zeitpunkt existieren?
Damit stellt sich in der Konsequenz auch die Frage: Bis wann genau ist die Zukunft relevant? Bis zur nächsten Generation? Oder zur Übernächsten? Wenn wir akzeptieren, dass zukünftige Generationen ebenfalls einen ethischen Stellenwert haben – wo ist dann die Grenze? Heisst das letzten Endes, dass wir uns als ethische Akteure darum bemühen sollten, die Weichen heute bestmöglich so zu stellen, dass die beste Wirkung auf die ferne Zukunft entfaltet werden kann? Schliesslich enthält die «ferne Zukunft» eine potenziell enorm grosse Anzahl Generationen, die rein zahlenmässig die Gegenwart deutlich überwiegt.

Natürlich gibt es empirische Schwierigkeiten, z.B. die Frage, wie stark wir die ferne Zukunft überhaupt effektiv beeinflussen können, und auch, wie wir die ferne Zukunft genau beeinflussen sollten – doch die eigentliche Frage bleibt bestehen: Hat die (ferne) Zukunft möglicherweise wesentlich mehr ethisches Gewicht, als wir es ihr für gewöhnlich zuschreiben? Diese Frage ist u.a. äusserst relevant hinsichtlich diverser Zukunftstechnologien, bezüglich derer wir heute politisch und gesellschaftlich die Weichen stellen können.

Bedürfnis-Orientierung als Fundament

Wie auch immer – entscheidend ist letztlich insbesondere der Inhalt dessen, was “ethisch wünschenswert” ist, d.h. die Frage, was wir überhaupt erreichen wollen. Hier stellt die Bedürfnisorientierung (2), wie sie in der Brundtland-Definition festgehalten wird, einen plausiblen und einleuchtenden Anstoss dar.

Bedürfnisse können trivialerweise entweder erfüllt oder nicht erfüllt sein. Ein Bedürfnis kann vielerlei Gestalt annehmen: Es kann psychologischer Natur sein, in einem unmittelbaren oder abstrakteren Sinn, es kann aber auch einem akuten physischen Schmerz entspringen. Generell stellen nicht erfüllte Bedürfnisse verschiedene Formen von (psychologischem oder physischem) Leid dar. Wenn wir uns an Bedürfnissen orientieren, was höchst intuitiv zu sein scheint, dann versuchen wir letztlich, Leid zu verhindern, das dadurch entsteht, wenn Bedürfnisse verletzt bzw. nicht erfüllt sind.
Darüber hinaus scheint es intuitiv auch sinnvoll zu sein, mehr (quantitativ) bzw. stärkere (qualitativ) Bedürfnisse entsprechend stärker zu gewichten. Das heisst, dass grösserem Leid auch grössere Priorität zukommen sollte.

Wessen Bedüfnisse?

Dies ist insbesondere in Verbindung mit einer kritischen Diskussion von (3) interessant. Mit der expliziten Orientierung an Bedürfnissen stellt sich zwingend auch die Frage, um wessen Bedürfnisse es überhaupt gehen soll. Oder anders ausgedrückt: Wessen Wohlergehen soll geschützt werden, bzw. wessen Leid soll überhaupt in die ethische Rechnung einfliessen? Die zweite Variante der obenstehenden Definition von nachhaltiger Entwicklung der Brundtland-Kommission gibt darauf eine eindeutige und im Einklang mit dem «Common Sense» stehende Antwort: Es geht – ausschliesslich und explizit – um Menschen.

Antispeziesismus: Überwindung der Speziesgrenze

Üblicherweise reden wir im ethischen Kontext tatsächlich primär vom Wohlergehen von Menschen und schliessen dabei andere Tiere aus dem Kreis der Träger ethischer Relevanz aus. “Andere Tiere”, weil auch der Mensch natürlich ein solches ist: Nämlich ein Trockennasenaffe. Damit wird auch gleich ersichtlich, dass die naive Diskriminierung von nichtmenschlichen Tieren auf der Basis “Tier vs. Mensch” nicht gerechtfertigt sein kann. “Es sind halt Tiere” kann nicht als Argument angeführt werden, ganz einfach weil auch der Mensch ein Tier ist. Gibt es andere Argumente, die eine Unterscheidung im Bezug auf die ethische Relevanz rechtfertigen können? Gibt es gute Gründe dafür, dass der Mensch das einzige Tier ist, dessen Wohlergehen relevant ist?

Einige würden sagen, dass viele Tiere nicht die notwendige Intelligenz aufweisen, um ethische Relevanz zu verdienen. Doch das scheint in mehrfacher Hinsicht fehlgeleitet zu sein: Wären dann konsequenterweise Menschen, die weniger intelligent sind, ethisch von geringerem Wert, als intelligentere Menschen? Wohl kaum. Dieses Kriterium scheint hinreichend absurd zu sein, um Intelligenz als Kriterium für ethische Relevanz ausser acht zu lassen.

Könnte alternativ beispielsweise die Sprachfähigkeit ein Kriterium sein? Eher nicht, denn ansonsten müssten beispielsweise stumme Menschen ebenfalls ihrer ethischer Relevanz entledigt werden – was wir kaum gutheissen würden. Ohnehin müsste vorerst geklärt werden, inwiefern Sprachfähigkeit überhaupt relevant sein sollte. Falls Sprachfähigkeit mit ethischer Relevanz korrelieren sollte, dann scheint es offensichtlich, dass der Grund dafür in einem spezifischen weiteren Merkmal liegt, aber nicht in der Sprachfähigkeit selbst.

Immer wieder hört man auch das Argument des Zukunftsbewusstseins. Doch auch dieses Kriterium scheint willkürlich zu sein bzw. den relevanten Kern der ethischen Frage nicht zu treffen: So ist gemäss wissenschaftlicher Erkenntnis der kognitive Zustand von Kleinkindern mit dem von Schweinen zu vergleichen, d.h. sie weisen vergleichbares Zukunftsbewusstsein auf. Mit guten Gründen erachten wir aber Kleinkinder dennoch als ethisch relevant und schützenswert. Weshalb also nicht auch zumindest nichtmenschliche Tiere, die ein gleiches kognitives Level aufweisen?

Einige Leute erwidern darauf, dass sich diese Lebewesen im Potential unterscheiden. Während ein Schwein nie ein höheres kognitives Level erreichen können soll, werden Kleinkinder später zu Wesen mit wesentlich ausgeprägteren kognitiven Fähigkeiten. Das jedoch auch dieses Argument nicht sinnvoll anwendbar ist, zeigt sich, wenn man vom Kleinkind noch ein wenig weiter zurück geht. Denn schon ein einzelnes Spermium hat das Potential, später zu einem ausgewachsenen Menschen zu werden. Würden wir deshalb Spermien ethische Relevanz attestieren? Wären dann Masturbation oder Verhütung verboten, weil dabei das Potential von Spermien bewusst verschwendet wird? Oder wäre gar Fortpflanzung an sich ethisch nicht haltbar, weil schliesslich auch beim auf die Zeugung von Kindern gerichteten Akt Millionen von Spermien ihrer Zukunft bestohlen werden? Das scheint insgesamt höchst unplausibel zu sein.

Eine weitere Möglichkeit, eine Grenze zwischen Mensch und nichtmenschlichen Tieren zu ziehen, liegt schlicht in der Zugehörigkeit zu einer unterschiedlichen Spezies. Letztlich laufen viele Versuche, einen Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren zu machen, auf diese als Speziesismus bekannte Position hinaus. Doch auch diese scheint vollkommen willkürlich zu sein, und darüber hinaus bestehen offensichtliche Parallelen zu Rassismus, Sexismus und anderen willkürlichen Diskriminierungsvarianten: Es werden jeweils gewisse Individuen aufgrund von unterschiedlichen äusseren Merkmalen anders behandelt, ohne dass es dafür eine begründbare Rechtfertigung gäbe.

So oder so würde sich noch eine weitere Frage stellen, wenn ausschliesslich das Empfinden von Menschen ethisch relevant sein sollte: Wann genau wurde der “Mensch” bzw. seine Vorgänger im evolutionären Prozess ethisch relevant? Denn natürlich ist evolutionäre Entwicklung ein Kontinuum, und es gibt keine “harte”, objektive Grenze. Niemand kann sagen, wer genau der „erste Mensch“ war. Alleine daran zeigt sich, dass die Diskriminierung auf Basis der Spezieszugehörigkeit immer auch Willkür mit sich bringt. Nicht unwahrscheinlich ist, dass viele Leute einem self-serving Bias unterliegen und sich einreden wollen, dass es Gründe gibt, zwischen Mensch und anderen Tieren ethisch zu diskriminieren.

Vom Anthropozentrismus zum Pathozentrismus

Oben wurde festgehalten, dass es mit der Bedürfnisorientierung letztlich auch darum geht, Leid zu verhindern. Was könnte also plausibler sein, als die Leidensfähigkeit – oder in einem breiteren Sinne Empfindungsfähigkeit – selbst als das relevante ethische Kriterium zu betrachten? Die naheliegendste Antwort auf die Frage nach Argumenten für die Diskriminierung zwischen dem Wohlergehen von Menschen und anderen Tieren scheint damit zu sein: Es gibt kein gutes.

Diese Position, die die Empfindungsfähigkeit bzw. Leidensfähigkeit selbst zum relevanten Kriterium erklärt, ist auch als Sentientismus oder Pathozentrismus bekannt. Sie unterscheidet sich von den oben angeführten dadurch, dass sie sich nicht nach äusseren, biologischen Merkmalen richtet, sondern stattdessen die Sicht des jeweiligen Individuums selbst wählt, und das effektive Empfinden bzw. Befinden als entscheidend erachtet. Und was sollte aus ethischer Perspektive auch sonst von Interesse sein?

Relevant ist also, was Leid empfinden kann – egal ob das ein Mensch, ein anderes Tier (oder allenfalls gar eine künstliche Intelligenz) ist.

Sentience

[Wer immer noch nicht überzeugt ist, dass auch nichtmenschliche Tiere von moralischer Relevanz sind: Das Thema wird in einer zweiteiligen Sequenz zum Thema (Anti-)Speziesismus von Lukas Gloor andernorts ausführlicher behandelt.]

Die Frage nach den Kriterien, die ethische Relevanz konstituieren, ist eine normative Frage. Auf der empirischen Ebene kann man sich sodann der Frage stellen, welche Lebewesen genau nun tatsächlich in der Lage sind, Leid zu empfinden bzw. Bedürfnisse zu haben. In der Cambridge Declaration on Consciousness hält eine Gruppe von renommierten Neurowissenschaftlern folgendes fest:

“[T]he weight of evidence indicates that humans are not unique in possessing the neurological substrates that generate consciousness. Non-human animals, including all mammals and birds, and many other creatures, including octopuses, also possess these neurological substrates. […]
Wherever in the brain one evokes instinctual emotional behaviors in non-human animals, many of the ensuing behaviors are consistent with experienced feeling states, including those internal states that are rewarding and punishing. […]
Evidence that human and non-human animal emotional feelings arise from homologous subcortical brain networks provide compelling evidence for evolutionarily shared primal affective qualia.”
– Auszüge aus der Cambridge Declaration on Consciousness

Gemäss dem breiten wissenschaftlichen Konsens müssen und sollten wir also davon ausgehen, dass nicht nur Menschen, sondern auch Säugetiere, Vögel und viele weitere Lebewesen in der Tat mit grösster Wahrscheinlichkeit ein Bewusstsein haben, was auch – davon müssen wir zumindest ausgehen – impliziert, dass sie in der Lage sind, Leid zu empfinden. Die Grenze verläuft gemäss aktueller Forschung bei Tieren wie den Spinnen der Salticidae-Familie – Schleimaalen, Kopffüssern und Rundmäulern hingegen wird Empfindungsfähigkeit zugeschrieben. Wo ganz genau die Grenze liegt ist für das Argument – und auch für eine allfällige praktische Umsetzung – aber in den allermeisten Fällen irrelevant. Denn die wenigen unklaren Fälle heben die zahlreichen klaren Fälle nicht auf. Relevant ist in diesem Sinn die Erkenntnis, dass zumindest fast alle grösseren Tiere empfindungsfähig sind und folglich Leid empfinden können.

Pathozentrismus und Sentientismus: Attraktive Alternativen

Die Brundtland-Definition von nachhaltiger Entwicklung eignet sich gut als Anstoss für Überlegungen zur Frage, was aus einer ethischen Perspektive das eigentliche Ziel sein soll. Mit Blick auf diese Frage kann, zur Brundtland-Definition von nachhaltiger Entwicklung zurückkehrend, zusammenfassend festgehalten werden:

  • Die Definition von nachhaltiger Entwicklung legt eine zukunftsorientierte Ethik nahe. Das scheint plausibel und sinnvoll, denn die Zukunft ist trivialerweise das einzige, worauf wir überhaupt irgendeinen Einfluss nehmen können.
  • Diese zukunftsorientierte Ethik soll sich grundsätzlich an Bedürfnissen orientieren bzw. versuchen, Leid zu verhindern.
  • Relevant sind gemäss der Brundtland-Kommission menschliche Bedürfnisse. Dieses Überkommen des Biozentrismus stellt bereits einen deutlichen Fortschritt zu diversen älteren Konzeptionen dar.
  • Dennoch scheinen aus einer ethischen Perspektive weiterhin Bedenken angebracht: Im Vergleich mit dem von der Brundtland-Kommission propagierten Anthropozentrismus scheint die Position des Pathozentrismus oder Sentientismus, die nicht vor der willkürlichen Speziesgrenze halt macht, wesentlich konsistenter zu sein.

Nachdem wir im ersten Teil die Bedeutung der Unterscheidung zwischen intrinsischem und instrumentellem Wert festgehalten haben, haben wir uns in diesem Teil nun die Zielfrage gestellt. Wir haben uns mit anderen Worten die Frage gestellt, was schlussendlich zählt. Wenn wir nun also im Anschluss an die eben erfolgte Argumentation von einer pathozentristischen bzw. sentientistischen Wertehaltung ausgehen: Was heisst das genau? Was folgt daraus für unsere Handlungsmöglichkeiten?
Eine mögliche Konsequenz ist das von der Giordano Bruno Stiftung Schweiz lancierte Projekt Sentience Politics. Was es damit genau auf sich hat, und inwiefern es sich abgesehen von der bereits erläuterten ethischen Grundhaltung von anderen politischen Gruppierungen unterscheidet, ist Thema des dritten Blogposts dieser Reihe.


Sequence „Von intrinsischen und instrumentellen Werten und (ir)rationaler Politik“

  1. Nachhaltigkeit, Natur und Artenvielfalt – Mittel oder Zweck?
  2. Vom Mittel zum Zweck – Pathozentrismus und Sentientismus
  3. Sentience Politics: Rationale, sentientistische Politik

Quellenangabe

Ulrich Grober, 2013: Urtexte – Carlowitz und die Quellen unseres Nachhaltigkeitsbegriffs. In Natur und Landschaft, Jg. 2013, Heft 2, S. 46.

BRUNDTLAND, G. H. (1987). Brundtland Report. Our Common Future. Comissão Mundial.

EFSA Panel on Animal Health and Welfare (2005). Opinion of the Scientific Panel on Animal Health and Welfare (AHAW) on a request from the Commission related to the aspects of the biology and welfare of animals used for experimental and other scientific purposes.

Low, P., Edelman, D., & Koch, C. (2012). The Cambridge declaration on consciousness.

GBS CH, Lukas Gloor: Ethik an der Speziesgrenze – Teil 1.

GBS CH, Lukas Gloor: Speziesismus – Teil 2.

GBS CH, Lukas Gloor: Zuerst kommt das Ziel.

Nick Beckstead (2013): On the Overwhelming Importance of Shaping the Far FuturePhD Thesis. Department of Philosophy, Rutgers University.

 

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Natur, Nachhaltigkeit und Artenvielfalt – Mittel oder Zweck? https://gbs-schweiz.org/blog/mittel-oder-zweck/ https://gbs-schweiz.org/blog/mittel-oder-zweck/#respond Tue, 29 Apr 2014 17:33:32 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=7075 Neuerdings muss alles «nachhaltig» sein. Die Finanzplanung muss «nachhaltig» sein, politische Massnahmen müssen (sozial) «nachhaltig» sein. Und natürlich unser Ressourcenverbrauch – der muss auch «nachhaltig» sein. Und so selten das auch sein mag, darüber scheint nahezu im gesamten politischen Spektrum ein gewisser Konsens zu bestehen. Dies ist Anlass genug, das Konzept hinter dem Wort «Nachhaltigkeit», und die damit eng zusammenhängenden Begriffe wie «Natur», «Natürlichkeit» und Ähnliche etwas genauer zu durchleuchten. Es stellen sich Fragen wie: Inwiefern kümmert es uns, ob Prozesse «nachhaltig» oder «natürlich» sind? Was genau ist es, das Nachhaltigkeit – ganz offenbar – so erstrebenswert macht? Worin genau liegt die tiefere Motivation, die Umwelt zu schützen, und die Artenvielfalt zu erhalten? Ist alles, was nachhaltig ist, gut? Besitzt Nachhaltigkeit per se einen Wert? Und wenn nein, inwiefern kann sie dann trotzdem wünschenswert sein?

Der vorliegende Text dient hauptsächlich dem Zweck, den Unterschied zwischen intrinsischem und instrumentellem Wert von Dingen zu betonen. Zu diesem Zweck werden vorerst einige (hypothetische) Meinungen diskutiert, hier im spezifischen Zusammenhang mit Nachhaltigkeit und Natur. Das zugrundeliegende Problem beschränkt sich jedoch keineswegs auf den in diesem Beitrag verwendeten Kontext. Im Text wird eine Interpretation von «Nachhaltigkeit» verwendet, wie man sie beispielsweise im Rahmen einer politischen Diskussion unter „Normalbürgern“ antreffen könnte. Das wissenschaftliche Verständnis von Nachhaltigkeit (bzw. nachhaltiger Entwicklung) ist wesentlich differenzierter, als das im Text verwendete. Demgegenüber ist der zentrale Punkt des Textes jedoch keineswegs trivial, sondern vielmehr unabhängig von der Komplexität der verwendeten Beispiele gültig. Doch nun genug der Meta-Bemerkungen, zurück zum Text.

Was ist «Nachhaltigkeit» wert?

Die Antworten auf die oben einleitend gestellten Fragen hängen selbstredend von der spezifischen Verwendung des Begriffs «Nachhaltigkeit» ab. Betrachten wir vorerst den folgenden Dialog, in dem einem Verfechter der Nachhaltigkeitsidee («N») etwas auf den Zahn gefühlt wird (durch «R»):

R: Du wirbst für „mehr Nachhaltigkeit“ und „nachhaltige Massnahmen“. Hast du dir schon mal überlegt, dass es auch Beispiele für nicht wünschenswerte Nachhaltigkeit geben könnte?

N: Das kann ich mir nicht vorstellen.

R: Zum Beispiel die globale Waffenindustrie: Ein Unternehmen produziert Waffen, die von einer Konfliktpartei nachgefragt wird, was eine andere Partei wiederum zwingt, ebenfalls aufzurüsten, um nicht ins Hintertreffen zu gelangen. Darauf muss die erste Partei wiederum nachziehen oder vorlegen – und so geht es immer weiter. Dieses Szenario ist in der Spieltheorie auch als „Aufrüstungsspirale“ bekannt.

N: Schön und gut, aber was ist jetzt daran nachhaltig?

R: Die Waffenindustrie scheint damit insgesamt ein „nachhaltiges System“ zu sein, denn sie ist ein system- und selbsterhaltender Komplex – ebenso wie u.a. Investitionen „finanziell nachhaltig“ oder gesellschaftspolitische Massnahmen „sozial nachhaltig“ sein können. Und übrigens: Sogar das Kastensystem im religiösen Kontext ist insofern „nachhaltig“, als es die soziale Mobilität tief hält und dadurch strukturerhaltend wirkt.

N: Naja, das sind aber auch sehr merkwürdige Beispiele für Nachhaltigkeit. Was ist mit der ökologischen Nachhaltigkeit, die meistens gemeint ist, wenn wir von Nachhaltigkeit sprechen?

R: Nun, stellen wir uns – ganz hypothetisch – vor, wir würden eine Ressource entdecken, mit der wir die Welthunger-Problematik lösen könnten. Der Haken dabei: Die Ressource müsste komplett erschöpft werden, um das Problem endgültig lösen zu können. Worin liegt nun der Wert, diese Ressource – einfach weil es „nachhaltig“ ist – zu erhalten, wenn sie stattdessen dazu verwendet werden könnte, massives Leid zu verhindern? Ähnlich können wir uns auch vorstellen, dass es eine Ressource gibt, deren Existenz eine Gefahr für das Wohlergehen der Menschheit darstellt. In solch einer Situation scheint es angebracht, die Ressource mutwillig zu zerstören. Selbst die ökologische Nachhaltigkeit ist also nicht einfach grundsätzlich „gut“.

N: Du machst es dir doch zu einfach. Wenn du das „gut“ von der „Nachhaltigkeit“ trennst, dann verbleibt bloss ein technisches und wertneutrales Konzept. Etwas ist natürlich nur dann wirklich nachhaltig, wenn es auch gut ist. Es ist doch offensichtlich, dass wir kein echtes Interesse an Formen von Nachhaltigkeit haben, wie du sie ausführst — oder nicht? Die von dir genannten Beispiele scheinen an den Haaren herbeigezogen. Ist denn nicht klar, was wir meinen, wenn wir Nachhaltigkeit in einem positiven Sinn verwenden?

R: Nicht unbedingt. Aber bevor ich das ausführe: Interessanter ist hier die Frage, ob es dir wirklich klar ist. Vielleicht könntest du erläutern, was du mit “wirklich nachhaltig” meinst? Was genau macht eine Massnahme “gut”, so dass wir – in deinem Sinne – ein „echtes Interesse“ daran haben?

N: Ok, sagen wir, ich stimme zu, dass in den von dir genannten Beispielen – in einem sehr technischen Sinne! — durchaus Elemente von so definierter „Nachhaltigkeit“ enthalten sind. Es gibt darin aber auch jeweils noch eine andere Art von Nachhaltigkeit, die offensichtlich überwiegt. Die Waffenindustrie ist nicht wirklich „nachhaltig“, weil sie verstärkt zu Gewalt führt, und die „Nachhaltigkeit der Gewaltlosigkeit“ überwiegt. Auch das Kastensystem ist nicht wirklich „nachhaltig“, weil es nicht fair ist, und die „Nachhaltigkeit der Chancengleichheit“ verletzt wird, die doch offensichtlich wichtiger ist.

R: Ich stimme dir selbstverständlich zu bezüglich der Beurteilung dieser konkreten Beispiele, doch mir geht es viel mehr darum, wie man zu einer solchen Beurteilung kommt. Das eigentliche, fundamentale Problem ist dadurch nämlich noch nicht gelöst, denn es muss doch, abgesehen von der puren und nicht weiter begründeten Intuition – die bei uns wohl in diesen Fällen übereinstimmt –, ein theoretisches Kriterium geben, das begründet, wie wir uns jeweils entscheiden: Welche „Arten“ von Nachhaltigkeit sind nun genau wünschenswert, und weshalb? Wie kann zwischen verschiedenen „Arten von Nachhaltigkeit“ abgewogen werden? Was ist es, das letztlich zählt, und das eine „Art von Nachhaltigkeit“ relevant und gewichtig macht? Es scheint, als fehle uns hier ein über die Intuition hinausgehendes Element, das unsere Entscheidungen rechtfertigen kann.

«N» könnte noch anbringen, dass diese ständige Fragerei ziemlich pedantisch wirke. Doch das verfehlt natürlich den eigentlichen Punkt. Denn interessant ist, dass die von «R» aufgeworfenen Fragen tatsächlich mit dem von «N» verwendeten (naiven) Konzept von Nachhaltigkeit offenbar nicht ohne weiteres beantwortbar sind. Es scheint, dass das, was Nachhaltigkeit erstrebenswert macht, nicht in der Nachhaltigkeit selbst liegt, sondern im Wert, der sich aus der Nachhaltigkeit ergibt. Dieser Wert jedoch wird durch das Nachhaltigkeitskonzept alleine nicht spezifiziert. Und damit können wir festhalten: Nur wenn die jeweils in Frage stehende Nachhaltigkeit der Erreichung eines eigentlichen Zieles dient, ist Nachhaltigkeit auch tatsächlich wünschenswert. Was jedoch dieses eigentliche Ziel sein mag, ist vorerst noch nicht definiert.

Der Natur–Bias

Doch bevor wir weiter auf diese Einsicht eingehen: Könnte «N» seine Position noch anderweitig verteidigen? Zumindest könnte «N» beispielsweise folgenden Einwand anbringen:

N: Nehmen wir an, ich verzichte, für den Zweck der Argumentation, auf die positive Normativität von Nachhaltigkeit. Die Werte, die dahinter stehen, und für die ich mich einsetze – nämlich den Erhalt der Umwelt, der Artenvielfalt, und auch den Erhalt von Ressourcen – scheinen mir dennoch weiterhin grundsätzlich sinnvoll zu sein, auch wenn ich dabei auf die Verwendung des Konzepts «Nachhaltigkeit» verzichte.

Viele Leute, und so wohl auch unser «N», fallen in solchen Fragen einem Bias zum Opfer, den wir auf Deutsch einfach Natur-Bias nennen können, d.h. dem Glauben oder der Überzeugung, dass „gut“ sei, was „natürlich“ ist, und umgekehrt „schlecht“ sei, was „unnatürlich“ ist. So möchten beispielsweise viele Leute, dass Arten erhalten werden bzw. ihr Aussterben verhindert wird, weil, nun – einfach weil sie nun mal natürlicherweise existieren. Oder dass die Umwelt grundsätzlich geschützt werden soll, weil sie eben Natur ist, und weil Natur doch gut ist. (Der Natur-Bias ist eng verwandt mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss. Während letzterer a priori sachneutral ist, beschränkt sich ersterer explizit auf Natur- bzw. Natürlichkeits-Kontexte.)

Dass ein solcher Schluss kein gutes Argument sein kann, zeigt sich exemplarisch relativ deutlich in der Behauptung, dass Menschen Fleisch essen sollten, weil es „in unserer Natur liegt“, und weil der Mensch „ohne Fleisch nicht zu dem geworden wäre, was er heute ist“. Das mag deskriptiv zutreffen. Doch die Frage bleibt: Inwiefern spielt es normativ eine Rolle? Ebenso könnte man nämlich argumentieren, dass wir vergewaltigen sollten, weil es „in unserer Natur liegt“, oder dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen sollten, weil wir ohne natürliche Selektion „nicht zu dem geworden wären, was wir heute sind“. Oder dass die Erforschung von Krebsmedikamenten schlecht ist, weil Krebs etwas natürliches und daher gut ist. Überhaupt wäre dann medizinische Forschung verwerflich, denn sie befasst sich eigentlich mit nichts anderem als der Bekämpfung des Leids, das die Natur mit sich bringt! Es scheint angesichts dieser Beispiele offensichtlich, dass es für eine ethische Beurteilung nicht ausreicht, etwas lediglich auf Basis seiner «Natürlichkeit» zu verteidigen.

Wie sieht es mit der Artenvielfalt aus? Welchen Wert hat es beispielsweise, dass eine gewisse gegebene Spezies existiert?

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Machen wir einen Reversal Test: Würden wir mit moderner Biotechnologie beispielsweise beliebige Raubtierarten aus dem nichts erschaffen wollen, ohne dass sie vorher jemals existiert hätten? Was könnte uns motivieren, so etwas zu tun?

Wir laufen bei Gedankenexperimenten wie diesem Gefahr, unsere eigenen Werte und Wünsche (wie Ästhetik) in die Welt (bzw. in das Gedankenexperiment) zu projiizieren. Dies hat aber dann nichts mehr mit Altruismus zu tun. Es wäre im Gegenteil bloss ein Ausdruck unserer eigenen egoistischen Wünsche. Wenn wir hingegen altruistisch sein wollen, dann beurteilen wir die Frage, ob wir im obigen Gedankenexperiment eine Raubtierart erschaffen sollten auf Basis der Effekte, die das auf andere Lebewesen hätte. Im Falle von Raubtieren sollten wir zumindest sehr skeptisch sein, dass diese positiv sind. Doch unabhängig davon, welche Konsequenzen empirisch tatsächlich eintreten würden, zeigt uns der Reversal Test hier, dass in der Artenvielfalt selbst wohl kein Wert liegt.

Instrumenteller oder intrinsischer Wert?

Selbstverständlich ist die ganze Sache in der Praxis etwas komplizierter. In den komplexen Ökosystemen, in welchen solche Szenarien in der Realität eingebettet sind, sind die Konsequenzen oft weitreichend und kaum in vollem Umfang vorhersehbar. So wird denn auch nicht behauptet, dass Artenvielfalt nie etwas gutes sein kann, oder gar, dass sie etwas schlechtes ist! Mit dem Gedankenexperiment sollte bloss gezeigt werden, dass die Existenz von Arten isoliert, d.h. per se, keinen intrinsischen Wert hat. Sofern der Erhalt einer Art jedoch der Erreichung eines (vorerst nicht weiter definierten) eigentlichen Zieles zuträgt, kann beispielsweise das Schützen einer Spezies aus einer ethischen Perspektive durchaus sinnvoll zu sein, aus instrumentellen Gründen! Doch alleine für sich genommen, scheint Artenvielfalt –altruistisch gesehen! –nichts wünschenswertes zu sein. Analog lässt sich auch die Position des bedingungslos vertretenen Umweltschutzes, und der prinzipiellen Ressourcen-Präservation kritisieren. Wenn beispielsweise dem aktiven Vernichten von Ressourcen oder dem Zerstören der Umwelt signifikante gesellschaftliche Interessen gegenüberstehen, dann scheint es rational, sich vom Natur-Bias zu lösen, beziehungsweise zumindest zu erkennen, dass es sich dabei sinnvollerweise bestenfalls um eine Heuristik handelt.

Dieses Problem stellt sich im Übrigen, wie eingangs erwähnt, nicht bloss im Zusammenhang mit den oben diskutierten Themenbereichen. Analog kann man sich nämlich auch fragen, ob Dinge wie eine «gerechte Einkommensverteilung», «Wirtschaftswachstum» oder ein «intaktes Klima» per se einen Wert haben. Die Antwort würde dann – mit der gleichen Begründung wie oben – lauten: Höchstwahrscheinlich nicht. Auch diese Dinge haben (zumindest keinen offensichtlichen) intrinsischen Wert, sondern sind nur insofern wünschenswert, als sie irgendwelche effektiv bestehenden Bedürfnisse befriedigen bzw. deren Verletzung verhindern. Und erst und einzig daraus leitet sich dann ab, ob diese Dinge ethisch-politisch erstrebenswert sind.

Von Heuristiken zum eigentlichen Ziel

Heuristiken sind für die Zielerreichung eines Akteurs per Definition bloss als Approximation hilfreich. Insbesondere bei politischen Entscheiden sollten Heuristiken aufgrund der häufig grossen Tragweite der Entscheide deshalb konsequent als solche erkannt und behandelt werden. So kann sichergestellt werden, dass Entscheide aufgrund von effektiven Ziele anstelle von (aus Heuristiken gefolgerten) Schein-Zielen gefällt werden. Das unvorsichtige Anwenden von Heuristiken kann, gerade wenn eine Heuristik empirisch tatsächlich nicht sonderlich zuverlässig ist, sogar dem eigentlich angestrebten Nutzen zuwiderlaufen.

Konsequenterweise muss sich ein rationaler Akteur also vorerst fragen: Was ist mein eigentliches Ziel? Leider stellen sich viele diese Frage letztlich nicht – auch bedeutende Entscheidungsträger. Dies mag auch einen Grund für die vielen scheinbar unlösbaren Streitigkeiten auf politischer Ebene darstellen. Was würde geschehen, wenn sich (1) alle Akteure über ihre fundamentalen Ziele im Klaren wären und diese ausserdem auch (2) transparent kommunizieren würden? Womöglich würden sich viele scheinbare Uneinigkeiten als hinfällig heraustellen. Natürlich würden auch weiterhin Differenzen in den fundamentalen Zielen bestehen – doch selbst in dieser Hinsicht wären transparente Ziele hilfreich. So würde es wohl u.A. wesentlich einfacher, Kompromisse und Kooperationen einzugehen und auszuarbeiten – weil alle Akteure wissen, woran sie sind. Zudem würde sich auch zeigen, dass die empirisch zu erwartenden Effekte politischer Massnahmen bei einer konsequent an effektiven Zielen orientierten Analyse von Policy-Fragen häufig äusserst unklar sind – im Gegensatz zu den scheinbar klaren Antworten, die die vielfach simplifizierenden und (zu) stark auf Heuristiken basierenden politischen Ideologien oftmals geben.

Die eigentlich triviale Einsicht, dass Dinge instrumentell oder aber intrinsisch wertvoll sein können, führt – ganz im Kontrast zur Trivialität der eigentlichen Erkenntnis – zu einer Vielzahl von äusserst relevanten Fragen, insbesondere: Was genau könnte intrinischen Wert haben, und weshalb gerade das? Was könnte ein solches fundamentales Ziel sein, das Dingen wie «Nachhaltigkeit», «Umweltschutz», «Artenvielfalt», «Wirtschaftswachstum», «Einkommensgerechtigkeit», usw. – denen im Beitrag ein intrinsischer Wert abgesprochen wurde – einen instrumentellen Wert verleihen kann?

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Haben wir Kontrolle über unsere Entscheidungen? https://gbs-schweiz.org/blog/haben-wir-kontrolle-ueber-unsere-entscheidungen/ https://gbs-schweiz.org/blog/haben-wir-kontrolle-ueber-unsere-entscheidungen/#respond Wed, 12 Mar 2014 17:29:26 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=7063

“When it comes to the mental world, when we design things like health care and retirement and stock markets, we somehow forget the idea that we are limited. I think that if we understood our cognitive limitations in the same way that we understand our physical limitations … we could design a better world.”

– Dan Ariely

Worauf basieren unsere Entscheidungen – die weniger wichtigen, aber insbesondere auch die „grossen“ und folgenreichen Entscheidungen? Welche Kriterien evaluieren wir bei Entscheidungsvorgängen, und wie genau gehen wir dabei vor? Üblicherweise gehen wir davon aus, dass unsere Entscheidungen auf den von uns als entscheidungsrelevant wahrgenommenen Aspekten basieren. Weshalb auch nicht?

Tatsächlich suggerieren die Ergebnisse entsprechender wissenschaftlicher Experimente, dass dies keineswegs der Fall sein muss. Sind es also vielleicht oft vielmehr Faktoren, die wir prima vista als entscheidungsirrelevant betrachten würden, die unsere Handlungen – zu womöglich grösseren Teilen, als uns lieb wäre – bestimmen? Eine zentrale Einsicht der verhaltensökonomischen und -psychologischen Forschung ist der Fakt, dass wir die Qualität unserer Entscheidungsfindung generell deutlich überschätzen.
 Dan Ariely, Vehaltensökonom und Autor von Predictably Irrational, verwendet kognitive Illusionen, um aufzuzeigen, dass wesentliche Aspekte unsere Entscheidungsfindungsprozesse oft gar systematisch irrational sind. Damit knüpft er im Wesentlichen an die Forschung von Daniel Kahnemann an, den Entdecker der sogenannten „Biases“.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Einige Länder weisen Organspender-Quoten von (nicht selten) bis zu 100% auf, während andere Länder lediglich Werte von 28%, 12% oder (meistens) gar noch weniger aufweisen. Wie kann das sein? An kulturellen Unterschieden, wie man vielleicht vorerst vermuten könnte, liegt es nicht. Es lassen sich nämlich jeweils diverse kulturell homogene Länderpaare finden, die sich in der Spenderquote deutlich unterscheiden. Und ebenso gibt es auch zahlreiche Länderpaare, die kulturell heterogen sind, aber sehr ähnliche oder gar identische Bevölkerungsanteile von Organspendern aufweisen. Auch systematische öffentliche Ermunterungen zum Organspenspenden vermögen die Unterschiede nicht zu erklären. In einem Land wurde gar an jeden einzelnen Haushalt ein Brief mit der Bitte versandt, sich zur Organspende bereit zu erklären – und obwohl diese Massnahme durchaus eine gewisse Wirkung hatte, findet sich dieses Land in der Gruppe mit den vergleichsweise signifikant tieferen Werten. Woher rühren also diese beträchtlichen Unterschiede?

Die Erklärung liefert Dan Ariely in seinem TED Talk mit dem Titel “Haben wir Kontrolle übere unsere Entscheidungen?”. Nur so viel sei gesagt: Die Antwort findet sich in einem vermeintlich irrelevanten Detail. Dass diese „Kleinigkeit“ aber höchst folgenschwere Entscheidungen – schliesslich stehen dabei Leben auf dem Spiel! – zu beträchtlichen Teilen beeinflussen kann, wirft Fragen auf, und zwingt uns, an unserer generellen Entscheidungsqualität zu zweifeln. Die gute Nachricht ist: Wenn wir uns dieser systematischen Irrationalitäten bewusst werden, und uns antrainieren, sie als solche zu erkennen, dann können wir sie auch zu umgehen lernen. In dieser Hinsicht ist im Übrigen auch Dan Arielys Forschung motiviert.

Quellenangabe

Ariely, D. (2008). Predictably irrational. New York: HarperCollins.

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