Evolution, Ethik und genetische Argumente
B: „Ach komm, das sagst du doch nur, weil du so bürgerlich erzogen worden bist.“
A: „Das kann gut sein. Aber wie ich zu meiner Überzeugung gekommen bin, sagt noch nichts darüber aus, ob sie wahr ist oder nicht. Das Gegenteil zu behaupten, wäre ein genetischer Fehlschluss.“
Was ist der genetische Fehlschluss? Der Ausdruck bezeichnet den Fehlschluss von der Entstehungsweise einer Überzeugung auf ihre Wahrheit oder Falschheit. (Achtung: „Genetisch“ meint hier „die Entstehung betreffend“; das Wort wird nicht im biologischen Sinn gebraucht.) Es handelt sich deshalb um einen Fehlschluss, weil die Art, auf die man zu einer Überzeugung gelangt, nicht hinreichend bestimmt, ob die Überzeugung wahr oder falsch ist. Aber ist es deshalb per se unzulässig, zu schauen, wie eine Überzeugung entstanden ist und davon ausgehend zu beurteilen, ob sie (eher) wahr ist oder nicht? Anders gefragt: Können genetische Argumente auch legitim sein?
Auf genetische Argumente stösst man oft in Diskussionen zu Evolution und Ethik. So wird z.B. für den ethischen Subjektivismus argumentiert, indem gesagt wird, dass unsere ethischen Überzeugungen Produkte der Evolution und Sozialisation sind. Die Struktur des Arguments geht so:
(2) Also ist keine ethische Aussage wahr.
Die ablehnende Haltung gegenüber dieser Art der Argumentation reflektiert die verbreitete Unterscheidung zwischen dem context of discovery und dem context of justification, also dem Entdeckungzusammenhang und dem Begründungszusammenhang. Der Wissenschaftsphilosoph Carl-Gustav Hempel untermalte die Unterscheidung mit der Geschichte des Chemikers Kekulé, der die Struktur von Benzen zu beschreiben versuchte: Nach einem langen Tag im Labor starrte Kekulé müde in ein Feuer, und erträumte sich darin ein Paar wirbelnder Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und einen Ring bildeten. In diesem Moment hatte Kekulé einen Geistesblitz und kam auf die Idee des Benzenrings.
Die Tatsache, dass Kekulé beim Tagträumen auf die Idee des Benzenrings kam, sagt uns natürlich noch nichts über die Struktur von Benzen. Es ist Sache der Psychologie, die möglicherweise idiosynkratischen Prozesse zu beschreiben, die hier den Entdeckungskontext bilden. Nachdem Kekulé traumartig auf die Ringstruktur stiess, konnte er sie experimentell nachweisen. Diese Experimente bildeten dann den Begründungszusammenhang.
Es ist klar, dass sich die Wahrheit oder Falschheit von Kekulés Hypothese nicht aus der Tatsache herleiten lässt, dass er sie aus einem Traum hatte. Aber ist es deshalb immer falsch, von der Genese einer Überzeugung auszugehen und zu versuchen, daraus Schlüsse über die Wahrheit oder Plausibilität der Überzeugung zu ziehen? Kann es neben den genetischen Fehlschlüssen nicht auch legitime genetische Argumente geben? Es kann durchaus vernünftige genetische Argumente geben, die dann allerdings in ihrer Form nicht-deduktiv sind.
Man stelle sich einen Professor vor, der seine erste Vorlesung des Semesters hält und die Anzahl der Anwesenden ermitteln will, indem er eine nummerierte Karte aus einer Urne zieht. In der Urne sind Hunderte solcher Karten, wobei jede mit einer anderen Nummer beschrieben ist. Der Professor greift in die Urne, zieht die Nummer 74, und erklärt, es seien 74 Leute im Saal. Das Argument geht wie folgt:
(4) Es ist nicht wahr, dass sich 74 Leute im Saal befinden.
Der Professor hat die Anzahl der Anwesenden durch ein Zufallsverfahren bestimmt. Das genetische Argument, von der zufälligen Bestimmung der Anwesenden (3) darauf zu schliessen, dass die Bestimmung wahrscheinlich falsch ist (4), ist deshalb legitim. Da es nicht ausgeschlossen ist, dass tatsächlich 74 Leute im Saal sind, ist das Argument zwar nicht deduktiv gültig, aber aus der Prämisse ergibt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der Konklusion. In diesem Fall liefert der Entdeckungszusammenhang also doch Informationen über den Wahrheitsstatus der Aussage.
Aus Prämissen, die beschreiben, wie jemand zu einer Aussage gekommen ist, lassen sich also zwar keine deduktiv gültigen Schlüsse über die Wahrheit der Aussage ziehen, induktive sind jedoch legitim. Deshalb können wir den ethischen Subjektivismus (vgl. oben) nicht einfach als einen genetischen Fehlschluss von der Hand weisen.
Das genetische Argument ist im Beispiel des Professors überzeugend, aber wieso? Weil der Grund seiner Überzeugung nichts damit zu tun hat, wie viele Studierenden im Saal waren. Wenn diese Unabhängigkeitsrelation besteht zwischen der Methode der Meinungsbildung und der Wahrheit oder Falschheit der Meinung, ist der Meinungsbildungsprozess nicht truth-tracking. In diesem Fall kann ein genetisches Argument zeigen, dass eine Überzeugung wahrscheinlich inkorrekt ist. Hingegen kann, wenn eine Abhängigkeitsrelation besteht und die Vorgehensweise truth-tracking ist, die Beschreibung der Entstehung einer Überzeugung zum Schluss führen, dass die Überzeugung wahrscheinlich korrekt ist.
Schauen wir uns ein Beispiel für ein genetisches Argument an, das die Wahrheit einer Überzeugung nahelegt. Wir können uns eine Professorin denken, die zur Überzeugung gekommen ist, dass 34 Leute in ihrem Vorlesungssaal sitzen, indem sie die Anwesenden sorgfältig gezählt hat. Das Argument geht folgendermassen:
(6) Es ist wahr, dass sich 34 Leute im Saal befinden.
Die Prämisse (5) hat der Konklusion (6) eine hohe Wahrscheinlichkeit verleiht: Weil die Zählung der Professorin als Methode zur Wahrheitsfindung nicht unabhängig davon war, wie viele Leute tatsächlich anwesend waren, sind die Voraussetzungen für eine wahrscheinlich wahre Konklusion gegeben.
Wenden wir uns vor diesem Hintergrund nochmals dem Argument (1) für den ethischen Subjektivismus zu. Wie die Gegenüberstellung des Professors und der Professorin gezeigt hat, hängt die deduktive Gültigkeit einer Argumentation davon ab, ob zwischen der Methode der Beweisführung und der Wahrheit/Falschheit der zu gewinnenden Meinung eine zielführende Beziehung besteht. Um diese Beziehung für eine ethische Frage zu festzustellen, muss zuerst
Wird dies anerkannt, müssen sodann
(b) die etwaigen objektiven Fakten beschrieben werden, die ethische Überzeugungen wahr oder falsch machen.
Dabei muss sich (a) an (b) richten, ansonsten liegt ein genetischer Fehlschluss vor. Ethische Überzeugungen, die sich auf objektive Fakten stützen, sind wahrscheinlich falsch und höchstens zufällig wahr. Dass eine Vielzahl unserer Überzeugungen evolutionär oder sozial entstanden sind, sagt noch nichts über ihren Wahrheitsgehalt. Ein evolutionär-humanistisches Weltbild impliziert also nicht, dass wir den Wahrheitsanspruch unserer ethischen Überzeugungen aufgeben müssen.