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Ethik an der Speziesgrenze – Teil 1

on Mai 14. 2013

Ein ausgewachsenes Pferd oder ein Hund sind ungleich rationaler und auch kommunikativer als ein Kleinkind im Alter von einem Tag, einer Woche oder einem Monat. Doch was besagt das schon? Die Frage lautet nicht: Können sie denken?, noch: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?

– Jeremy Bentham

Schon 1823 erkannte der Philosoph Jeremy Bentham, dass Kriterien wie Intelligenz oder Sprachfähigkeit bei Menschen für den moralischen Status irrelevant sind. Nicht alle Menschen können rechnen oder über Moral nachdenken, aber trotzdem glauben wir, dass alle Menschen in einem relevanten Sinne gleich sind bzw. gleich zählen. Dies kann sinnvollerweise so interpretiert werden, dass alle einen gleichen Anspruch haben, ihren Interessen und Bedürfnissen gemäss moralisch berücksichtigt zu werden. Bentham sah ein, dass es willkürlich wäre, empfindungsfähige nicht-menschliche Tiere – d.h. Tiere, welche gleichermassen Interessen und Bedürfnisse haben – von dieser Berücksichtigung auszuschliessen. Benthams Erkenntnis blieb jedoch lange ohne Folgen. Erst in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, als Peter Singer den Begriff „Speziesismus“ bekannt machte und die Analogie zu Rassismus und Sexismus zog, fasste die Tierrechtsbewegung richtig Fuss.

Der Speziesismus ist die Diskriminierung aufgrund der Artzugehörigkeit. Es ist speziesistisch, wenn ein Wesen nur wegen der Artzugehörigkeit mehr oder weniger moralische Berücksichtigung erfährt. Das „nur“ im vorherigen Satz ist der springende Punkt, was leider oft missverstanden wird. Anti-Speziesismus bedeutet nicht, dass Fliege, Mensch, Kaktus und Schwein gleich zu behandeln sind – obwohl sie alle unterschiedlichen biologischen Arten angehören. Es geht nicht darum, relevante Unterschiede zwischen den Individuen verschiedener Arten zu ignorieren, sondern darum, dass gleiche bzw. gleich gewichtige Interessen fairerweise auch gleich berücksichtigt werden sollen – unabhängig von der Artzugehörigkeit der entsprechenden Individuen. Wo keine Interessen vorliegen, kann man auch keine berücksichtigen.

So ist es zum Beispiel keineswegs speziesistisch, einem Schwein das Recht auf Meinungsfreiheit zu „verweigern“. Weil Meinungsfreiheit nicht im Interesse des Schweins liegt, könnte es gar keinen Gebrauch von einem solchen Recht machen. Obwohl es zutrifft, dass kein Schwein ein Interesse an Meinungsfreiheit hat, ist es nicht primär die Spezieszugehörigkeit, die hierfür den Ausschlag gibt. Eine Ausnahme ist zumindest vorstellbar: Wenn nun, hypothetisch, ein bestimmtes Schwein plötzlich zu sprechen beginnen und die Zustände in der Nutztierhaltung anprangern würde, wäre es dann nicht klar unzulässig, ihm (etwa aufgrund „falscher“ Spezieszugehörigkeit) die Meinungsfreiheit abzusprechen?

Natürlich existieren oft beträchtliche Unterschiede zwischen Mitgliedern verschiedener Arten. Die zentrale Frage ist, wo und wann die vorhandenen Unterschiede auch wirklich relevant sind. Manchmal sind sie es: Ein Kaktus kann z.B. nicht auf die gleiche Weise verletzt werden wie ein Schwein. Im Gegensatz zu Schweinen sind Kakteen nämlich (höchstwahrscheinlich) nicht empfindungsfähig. Der Kaktus hat keine „Ich-Perspektive“, für die ein Zustand gut oder schlecht sein kann. Wenn hingegen einem Schwein Leid zugefügt wird – wenn es beispielsweise ohne Betäubung kastriert wird – dann existiert aller Wahrscheinlichkeit nach ganz real ein Zustand, der vom Schwein als schlecht empfunden wird und aus dem es unbedingt hinaus möchte.

Speziesismus liegt dann vor, wenn gezeigt werden kann, dass die Unterschiede, die als Rechtfertigung der geringeren Berücksichtigung der Mitglieder gewisser Arten angeführt werden, nicht relevant sind. Dies scheint in der gesellschaftlichen Diskussion zur Tierethik oft der Fall zu sein. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir die Kriterien, welche die Ungleichbehandlung rechtfertigen sollten, bei Mitgliedern der menschlichen Spezies niemals akzeptieren würden. Wer behauptet, dass Tierleid nichts (oder weniger) zählt, weil Tiere nicht intelligent, sprachbegabt oder zu moralischen Erwägungen fähig seien, der müsste konsequenterweise auch akzeptieren, dass die Interessen von Menschen, welche die obigen Kriterien nicht erfüllen, nichts (oder weniger) zählen. Die wenigsten dürften ernsthaft bereit sein, diese Kriterien anzubringen, nachdem sie diese Inkonsistenz bemerkt haben. Gewiss: Wenn es um die Verteidigung der eigenen Essgewohnheiten geht, wird sich die Anzahl dieser Leute wohl erhöhen. Dann wäre der Grund dafür jedoch unmittelbares Eigeninteresse, und nicht eine rationale Argumentation, welche das Fundament unserer ethischen Positionen bilden sollte. Und es handelt sich in der Tat meist um eine unredliche Rationalisierung, wenn Leute im Kontext einer hitzigen Diskussion akzeptieren, dass die Interessen weniger intelligenter, sprachbegabter oder zu Moralerwägungen fähiger Menschen weniger zählen.

Die Moralfähigkeit als Kriterium rührt wohl von der Intuition, dass es „ohne Pflichten keine Rechte“ geben könne bzw. dass „Rechte an Pflichten“ gebunden seien. Das stimmt in dem trivialen Sinne, als „X hat ein Recht“ nichts anderes bedeutet als „Moralische Akteure haben gegenüber X eine Pflicht“. Rechte implizieren also Pflichten bei anderen. Es ist aber nicht ersichtlich, warum die Träger von Rechten zwingend auch Träger von Pflichten sein müssten. Und in der Tat: Aus unterschiedlichen Gründen sind manche Menschen keine Pflicht-Träger, Recht-Träger aber sind sie alle.

Zusätzlich zur kontraintuitiven Konklusion, dass das Leid etwa von Kleinkindern oder Menschen mit fortgeschrittener Demenz weniger zählen würde, scheint die Position, dass Intelligenz für das „Nicht-leiden-Müssen“ relevant sei, auch an sich völlig willkürlich. Wenn ich mir introspektiv mein Leid vergegenwärtige, dann erscheint es mir nicht deshalb schlecht, weil ich sprechen oder rechnen kann. Um die unmittelbare Wichtigkeit meines Nicht-Leidens zu erkennen bzw. zu fühlen, muss ich auch nicht in der Lage sein, über moralische Pflichten nachzudenken, die ich gegenüber anderen haben könnte. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb Leid nur zählen sollte, wenn ein Wesen intelligent ist. Das Schlechte am Schmerz ist der Schmerz selbst. (Bemerkenswert an der Intelligenz-Position ist im Übrigen auch, dass es diese Ethik hochintelligenten Ausserirdischen erlauben könnte, uns zu versklaven. Hier wird die Intelligenz-Position natürlich versuchen, zu behaupten, wir hätten eine relevante Intelligenz-Schwelle überschritten. Doch welche nicht-willkürliche Schwelle könnte dies sein?)

An dieser Stelle ein Einschub: Bisher war oft von Leid(verursachung) die Rede, nicht vom Töten. Dies ist bewusst gewählt. Die ethische Frage, ob der Tod an sich ein Übel darstellt, und wenn ja, abhängig von welchen Kriterien und in welchem Ausmass, ist komplex und würde den Rahmen dieses Blog-Artikels sprengen. Um die wesentlichen Argumente zum Anti-Speziesismus zu erläutern, genügt es, sich auf eine ethisch relevante Grösse (hier: Leid) zu konzentrieren.

Um die Ungleichbehandlung von nicht-menschlichen Tieren zu rechtfertigen, wird oft auch über die Empathie argumentiert. Weil Menschen für andere Tiere in der Regel weniger Empathie empfinden als für ihre Artgenossen, ist – so das Argument – die geringere moralische Berücksichtigung der Tiere in Ordnung (d.h. keine unzulässige Diskriminierung). Wenn dieses Argument jedoch durchginge, könnten wir auch in Fällen, wo willkürlich Menschengruppen diskriminiert werden, argumentativ nicht mehr stichhaltig kontern. Die Geschichte lehrt uns leider, dass sich die Empathie bei Menschen erschreckend einfach selektiv abschalten lässt, wenn es um das Wohl einer „In-group“ geht, der eine „Out-group“ entgegensteht. Es ist schlichtweg nicht der Fall, dass alle Menschen für alle anderen Menschen gleichermassen Empathie empfinden. Trotzdem betrachten wir die Idee der gleichen Menschenrechte (zu Recht) als fortschrittlich und richtig. Die Ethik bedarf wohl eines allgemein-empathischen Inputs, aber die Empathie alleine ist evolutionär und historisch sehr kontingent und beim Auffinden dessen, was ethisch gut, wichtig und richtig ist, ohne die Rationalität unverlässlich.

Im Zuge der kulturellen Evolution hat sich der moralische Kreis der „In-group“ glücklicherweise auf die gesamte Menschheit ausgedehnt (obwohl es natürlich weiterhin grosse Probleme gibt). Angesichts der Argumente gegen den Speziesismus scheint es höchste Zeit zu sein, den moralischen Kreis um alle bisher ausgeschlossenen empfindungsfähigen Wesen zu erweitern.

Serie: Speziesismus

  1. Ethik an der Speziesgrenze – Teil 1
  2. Speziesismus – Teil 2