Subjektive und objektive Wahrscheinlichkeit
In „Warum jede Handlung eine Wette ist“ wurde der Kontrast zwischen subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeiten eingeführt. Die Frage ist nun, wie sie sich zueinander verhalten.
Seit der Entwicklung einer mathematischen Theorie der Wahrscheinlichkeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts oszilliert der Begriff der Wahrscheinlichkeit zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Bedeutungen:
Die frequentistische Interpretation begreift Wahrscheinlichkeiten im Hinblick auf die Frequenzen, mit denen Ereignisse längerfristig eintreten. Zu sagen, dass beim Werfen eines fairen Würfels die Wahrscheinlichkeit einer 4 genau 1/6 beträgt, heisst, dass längerfristig etwa bei 1/6 der gesamten Würfe eine 4 gewürfelt wird.
Die subjektivistische oder Bayesianische Interpretation versteht Wahrscheinlichkeiten im Hinblick auf den Glaubensgrad eines Subjekts. Dass beim Werfen eines fairen Würfels die Wahrscheinlichkeit einer 4 genau 1/6 beträgt, sagt uns, in welchem Grad jemand das Eintreten eines Ereignisses erwartet. Mathematisch gesehen sind die beiden Interpretationen äquivalent: beide gehen von Kolmogorovs Axiomen aus. Der entscheidende Unterschied tritt in der Anwendung auf:
Für den Frequentisten kann die Wahrscheinlichkeitsrechnung nur zur Anwendung kommen, wenn Frequenzen verfügbar sind – wenn Ereignisse wie das Werfen eines Würfels oder das Ziehen einer Karte beliebig oft wiederholt werden können. Hinsichtlich einmaliger Ereignisse sind Wahrscheinlichkeiten schlicht und einfach nicht definiert. Es macht demnach keinen Sinn, von der Wahrscheinlichkeit zu sprechen, dass Lee Harvey Oswald Präsident Kennedy ermordet hat, weil es kein Universum von Kennedy-Morden gibt, in dem wir zählen können, wie oft Kennedy durch Oswald ermordet wird, und wie oft ein anderer Mörder dafür verantwortlich ist. Genauso inkohärent ist es für den Frequentisten, im Lichte gegebener Daten nach der Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit einer Theorie zu fragen. Es verhält sich damit wie mit der Frage, ob ein dunkler Fleck am Horizont eigentlich ein Pferd ist.
Für den Subjektivisten oder Bayesianer hingegen sind diese Fragen völlig legitim. Für ihn geht es bei Wahrscheinlichkeiten um den Grad unseres Glaubens oder unserer Überzeugung im Lichte einer bestimmten Beweislage – es spielt dabei keine Rolle, worauf sich die Überzeugung bezieht. Demgemäss kann die Wahrscheinlichkeitsrechnung angewendet werden, um auf der Basis wissenschaftlicher Beobachtungen oder einfacher Sinnesdaten unseren Glaubensgrad bezüglich einer wissenschaftlichen Hypothese oder der Identität eines Flecks am Horizont zu bestimmen und beim Auftreten neuer Daten anzupassen. Jede Beobachtung (auch eine einmalige) kann in der Gesamtrechnung berücksichtigt werden, und wir können eruieren, ob und in welchem Masse sie erklärend wirkt (wie dies genau geht, erläutert der Artikel zum Bayestheorem).
Aus diesem kurzen Abriss geht hervor, dass sich der Frequentist ausschliesslich für objektive Wahrscheinlichkeiten interessiert – also für die realen Tendenzen, mit denen Ereignisse eintreten. Diese Tendenzen sind unabhängig von unseren Überzeugungen (und von Subjekten generell), sie sind gewissermassen in der Welt. Es wäre allerdings vorschnell, die Frequenzen, von denen der Frequentist ausgeht, mit den objektiven Wahrscheinlichkeiten gleichzusetzen: Die beobachtete Frequenz in einer Reihe von Ereignissen wird meistens nicht genau der zugrundeliegenden objektiven Wahrscheinlichkeit entsprechen (nur etwa bei 1/6 der gesamten Würfe wird eine 4 gewürfelt). Der Subjektivist oder Bayesianer hingegen interessiert sich nicht nur für die objektive Wahrscheinlichkeit, mit der eine Aussage wahr ist, sondern auch für den Glaubensgrad, mit der sie von einem Subjekt für wahr gehalten wird – für ihre subjektive Wahrscheinlichkeit.
Nicht jede Aussage, der jemand eine subjektive Wahrscheinlichkeit zuteilt, besitzt auch eine objektive Wahrscheinlichkeit. Ich kann sehr wohl eine bestimmte Erwartung haben, dass mein bester Freund an mein Geburtstagsfest kommt oder dass ein bestimmtes Pferd das Rennen gewinnt, auch wenn es keinen Sinn macht zu sagen, dass diese Aussagen objektive Wahrscheinlichkeiten besitzen.
In anderen Fällen hingegen sprechen wir Aussagen eine subjektive Wahrscheinlichkeit zu, die auch eine objektive Wahrscheinlichkeit aufweisen – zum Beispiel, dass ein Atom in einem bestimmten Zeitintervall zerfällt, oder dass ein Embryo männlich ist, oder dass die nächste Karte aus einem gut gemischten Kartenspiel ein Ass sein wird.
Es gibt allerdings keine Garantie dafür, dass unsere subjektiven Wahrscheinlichkeiten mit den objektiven übereinstimmen. Ich kann ein Ass mit einem Glaubensgrad von 1/2 erwarten, obwohl seine objektive Wahrscheinlichkeit 1/4 beträgt. Dennoch gibt es auch in solchen Fällen etwas über das Verhältnis der subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeit zu sagen, nämlich:
The Principal Principle: Meine subjektiven Wahrscheinlichkeiten sollten mit den objektiven Wahrscheinlichkeiten übereinstimmen, auch wenn sie es faktisch nicht tun.
Der Name „Principal Principle“ geht auf den Logiker und Philosophen David Lewis zurück. Seine Formulierung war etwas komplexer, aber das Essentielle ist, dass er diese Idee als fundamental für unser Verständnis von subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeiten betrachtete.
Während uns das Dutch-Book-Argument grosse Freiheit bei der Wahl unserer subjektiven Überzeugungen lässt (die einzige Einschränkung ist, dass unsere Glaubensgrade nicht mit den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie konfligieren), schränkt das Principal Principle die Idee des rationalen Akteurs etwas weiter ein: Wenn objektive Wahrscheinlichkeiten existieren, sollte ein rationaler Akteur seine subjektiven Wahrscheinlichkeiten damit in Übereinstimmung bringen.
Dieses Prinzip ist offensichtlich vernünftig: Wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen wollen, tun wir gut daran, in unseren Glaubensgraden nicht von den objektiven Wahrscheinlichkeiten abzuweichen. Habe ich einen hohen Glaubensgrad, dass als Nächstes ein Ass fallen wird, wenn seine objektive Wahrscheinlichkeit nur 1/4 beträgt, werde ich schlechte Wetten eingehen. Ein rationaler Akteur orientiert sich am Principal Principle, um zu gewinnen.