Gedanken aus dem Cache – Warum wir das Denken oft anderen überlassen
Eines der grössten Rätsel des menschlichen Gehirns besteht in der Frage, wie dieses Organ überhaupt funktioniert, wenn die meisten Neuronen mit einer Frequenz von 10 bis 20 Hz, also 10 bis 20 mal pro Sekunde feuern (die Höchstfrequenz beträgt lediglich 200 Hz). Die “Hundert-Schritt-Regel” aus der Neurologie besagt, dass jeder postulierte Arbeitsvorgang in maximal 100 aufeinanderfolgenden Schritten durchgeführt werden muss – dabei ist es egal, wie parallel diese Schritte ablaufen.
Können Sie sich vorstellen, ein Programm schreiben zu müssen, welches lediglich unter Verwendung von 100Hz Prozessoren läuft, auch wenn beliebig viele davon zur Verfügung stehen? Damit dieses Programm auch nur irgendetwas in Echtzeit ausführen kann, müssten Ihnen dann aber auch hundert Milliarden Prozessoren zur Verfügung stehen.
Müssten wir nun Echtzeitprogramme für hundert Milliarden 100Hz Prozessoren schreiben, dann würden wir von einem bestimmten Trick so oft wie möglich Gebrauch machen, nämlich dem des “Caching”. Darunter versteht man das Abspeichern von Ergebnissen bereits ausgeführter Operationen, um sie beim nächsten Mal einfach nachschauen zu können, statt sie erneut zu berechnen. Und die Neurone unseres Gehirns machen so etwas häufig, man denke nur an Wiedererkennung, Assoziation und Mustervervollständigung.
Vermutlich beruht der Grossteil menschlicher Kognition auf ‘cache-gestützten’ Suchen. Um zu veranschaulichen, was damit gemeint ist, diene folgendes Beispiel:
Ein Besserwisser unterhält sich mit seinem Nachbarn und behauptet nebenbei, die beste Methode den Schornstein eines Hauses zu entfernen, sei es, zuerst die Feuerstelle herauszuschlagen, darauf zu warten, dass die darüber liegenden Ziegel herunterstürzen, um auch diese wiederum zu beseitigen. Diesen Prozess wiederhole man so lange, bis schliesslich der Schornstein verschwunden sei. Jahre später, als der Nachbar seinen eigenen Schornstein entfernen wollte, wartete dieser Gedanke immer noch tief im Verborgenen seines Caches sehnlichst darauf, endlich abgerufen zu werden.
Wie dieser Mann später feststellen musste, war sein Nachbar nicht gerade der kompetenteste und verlässlichste Fachmann in diesem Bereich. Hätte er die Idee hinterfragt, wäre ihm vermutlich aufgefallen, um welch eine schlechte Idee es sich dabei gehandelt hatte. Manchmal wären wir besser dran, einige Cache Hits neu zu berechnen. Aber unser Gehirn vervollständigt das Schema automatisch – und falls wir nicht bewusst realisieren, dass jenes korrigiert werden muss, stehen wir lediglich mit einem ergänzten Muster da.
Wäre dem Mann der Gedanke selbst gekommen, wäre ihm die grossartige Idee, wie man einen Schornstein entfernt, persönlich eingefallen, hätte er die Idee vermutlich kritischer überprüft. Aber wenn andere bereits eine Idee durchdacht haben, kann man sich doch die Rechenarbeit sparen, indem man ihre Schlussfolgerung einfach im eigenen Cache abspeichert – oder etwa nicht?
Vor allem in unserer modernen Zivilisationen hat niemand die Zeit, sich alle Gedanken und Erkenntnisse selbst zu erschliessen. Würde man als Säugling im Wald ausgesetzt und von Wölfen erzogen werden, würde man als Kind im Verhalten später schwerlich als Mensch wiedererkennbar sein. Niemand kann schnell genug denken, um das gesamte Wissen eines Jäger-und-Sammler-Stammes in nur einer einzigen Lebensspanne zu rekapitulieren – von dem Wissen einer schriftkundigen Zivilisation ganz zu schweigen.
Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass Leute, die kritisches Denken anstreben, oftmals Gedanken aus ihrem Cache wiedergeben, welche nicht von kritischen Denkern stammen.
Ein gutes Beispiel hierfür wäre der Skeptiker, der einräumt: “Nun gut, man kann eine Religion nunmal nicht anhand von Tatsachen beweisen bzw. widerlegen.” Aber wie wir bereits sehen konnten, stimmt diese Aussage nicht. Auch ist dies falsch im Sinne der eigentlichen Psychologie, die sich hinter einer Religion verbirgt – noch vor wenigen Jahrhunderten wäre so ein Skeptiker auf dem Scheiterhaufen gelandet. Eine Mutter, deren Tochter krebskrank ist, betet: “Gott, bitte heile meine Tochter.” Und nicht: “Lieber Gott, ich bin mir bewusst, dass Religionen keine falsifizierbaren Konsequenzen beinhalten dürfen, was bedeutet, dass du meine Tochter unmöglich heilen kannst. Nun, eigentlich bete ich im Grunde nur, um mich selbst besser zu fühlen, anstatt etwas zu tun, das meiner Tochter tatsächlich helfen könnte.”
Aber Leute lesen “Man kann eine Religion nicht anhand von Tatsachen beweisen bzw. widerlegen” und beim nächsten Mal, wenn sie auf einen Nachweis stossen, der eine Religion widerlegt, vervollständigt ihr Gehirn das Muster. Sogar manche Atheisten wiederholen diesen Unsinn, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern. Hätten sie sich dieses Argument selbst ausgedacht, anstatt es von jemand anderem zu hören, wären sie skeptischer gewesen.
Welche Gedankenmuster werden von Ihrem Gehirn vervollständigt, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind?
Tod: Ergänzen Sie das Muster: “Der Tod gibt dem Leben einen Sinn.”
Rationalität: Ergänzen Sie das Muster: “Rationalität lässt keinen Platz für Emotionen.”
Wenn Ihnen dieser Gedanke persönlich gekommen wäre, als ein komplett neuer Einfall, wie würden Sie ihn kritisch hinterfragen? Manch einer würde erklären, was unter Rationalität zu verstehen ist, und dass überdurchschnittlich rationale Menschen natürlich auch Emotionen verspüren. Aber was würden Sie sagen? Manchmal kann es einem schwer fallen, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dennoch sollten wir versuchen, nicht in die üblichen und allbekannten Denkmuster zu verfallen. Es mag sein, dass es keine bessere Antwort als die Standardantwort gibt. Aber solange wir unser Gehirn nicht davon abhalten können, die Antwort automatisch auszuspucken, sind wir auch nicht in der Lage, über die Antwort nachzudenken.
Beim nächsten Mal, wenn jemand bedenkenlos eine Idee wiedergibt, welche Sie für töricht oder falsch befinden, werden Sie sich nun vielleicht denken: “Das sind bloss Gedanken aus dem Cache.” Der Inhalt dieses Beitrags ist jetzt in Ihrem Gedächtnis verankert und wartet darauf, das Muster zu vervollständigen. Doch ist er auch wahr?
Quellenangabe
Yudkowsky, E. (2007): Cached thoughts. Übersetzt und ergänzt von Andrei Pöhlmann.