Bedingungsloses Grundeinkommen: Eine Idee jenseits von Markt- und Staatsgläubigkeit?
Was macht unsere Gesellschaft gerechter? Und was macht sie glücklicher? Besteht ein Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Glück? In gewisser Hinsicht ist dies der Fall: Eine Gesellschaft gerechter zu gestalten, bedeutet unter anderem, dass die Grundbedürfnisse der ihr zugehörigen Menschen abgesichert sind, wodurch viele Ängste genommen werden und das Leben somit erträglicher und glücklicher gestaltet wird. Eine gerechtere Gesellschaft beinhaltet zudem die Beseitigung von offenkundig unfairen Privilegien. Dies würde die Missgunst, die Empörung und den Ärger derjenigen mildern, welche von diesen Privilegien nicht profitieren oder an diesen nicht teilhaben können.
Dennoch gibt es keine Garantie dafür, dass die gerechteste Gesellschaft auch die glücklichste sein wird. Dies liegt darin begründet, dass das Unglücklichsein wesentlich durch den Unterschied zwischen dem, was man hat, und dem, was man will, bestimmt wird. Währenddessen wird Ungerechtigkeit durch die Diskrepanz zwischen dem, was man hat, und dem, was einem zusteht, festgelegt. Es gibt aber keinen Grund, zu erwarten, dass Wollen und legitimes Beanspruchen in der gerechtesten Gesellschaft perfekt deckungsgleich sein werden. Daher ist es theoretisch möglich, dass eine Minimierung von Ungerechtigkeit zu einem Anstieg an unglücklichen Menschen führen wird.
Ist das Streben nach einer gerechteren Gesellschaft also gar nicht so zentral, wie es auf den ersten Blick scheint? Dem ist natürlich nicht so. Auch wenn letztlich jeder Mensch für sein eigenes Glück verantwortlich ist, so gilt Gerechtigkeit dennoch als ein wichtiger Faktor für eine glückliche Gesellschaft.
Der dritte Weg – jenseits von Markt- bzw. Staatsgläubigkeit
Worum nun handelt es sich bei der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) überhaupt? Das bedingungslose Grundeinkommen stellt einen Geldbetrag dar, der ohne Bedingungen an alle Mitglieder einer Gesellschaft individuell und ohne Bedürftigkeitsnachweis oder Arbeitserfordernis ausbezahlt wird. In der aktuellen Diskussion liegt dieser Betrag ungefähr auf Höhe des existenzsichernden Minimums, wobei verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten thematisiert werden.
Der Ökonom Peter Ulrich ist emeritierter Professor für Wirtschaftsethik. 1989 gründete er an der Universität St. Gallen das Institut für Wirtschaftsethik, das er bis 2009 leitete und wesentlich prägte. Er ist Begründer der „Integrativen Wirtschaftsethik“, die ökonomische Sachlogik und Ethik zu verbinden sucht. Für ihn geht das bedingungslose Grundeinkommen Hand in Hand mit der Leitidee des republikanischen Liberalismus; der Vorstellung also, dass die Gesellschaft von real freien Bürgern gestaltet und bestimmt wird. Mit dem BGE wäre es möglich, einen dritten Weg – jenseits von Markt- bzw. Staatsgläubigkeit – einzuschlagen. Einen Weg, so die Idee, der realen Freiheit und Selbstbestimmung.
Der republikanische Liberalismus ist nicht mit dem ökonomischen Liberalismus gleichzusetzen, da letzterer für Ulrich nicht den Ansprüchen einer liberalen Gesellschaft entsprechen kann. In einem „freien“ Markt entscheiden die Individuen hauptsächlich nach ökonomischen und eigennutzenbasierten Gesichtspunkten. Dies entspricht nicht den moralischen Standpunkten, wonach die Interessen aller betroffenen Menschen in jeder Situation miteinbezogen und abgewogen werden sollten – und nicht nur dann, wenn man selbst auch davon profitiert. Eine wichtige Voraussetzung, dass der Mensch diesen Prinzipien auch nachkommt, ist die Ausgestaltung der Gesellschaftsform: Je gleichberechtigter und freier sich der Bürger und die Bürgerin fühlt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Menschen als Individuen mit eigenständig wertvollen Präferenzen und Absichten betrachten.
Die Parteilichkeit des Marktes und die Schwächen des Sozialstaates
Dem Markt ist eine strukturelle Parteilichkeit inhärent, zumal die Besitzer von Finanz-, Sach- und Humankapital eine stärkere Position einnehmen. Für Ulrich steht somit nicht die Wohlfahrt im Vordergrund, sondern die Schaffung von gleichen Rechten und Pflichten aller BürgerInnen.
Nach Ulrich sind Gesellschaft und Wirtschaft voneinander zu trennen, denn: „Mit puren Eigennutzmaximierenden lässt sich vielleicht ein legalistischer „Leviathan“, aber keine einigermassen gerechte und solidarische Gesellschaft aufbauen, in der alle bedingungslos real frei sind“ (Ulrich 2007: 2).
Die bisherigen Versuche des heutigen Sozialstaates, die Schwächen des Marktes zu verbessern und umzuverteilen, haben negative Begleiterscheinungen erkennen lassen und stellen zudem blosse Symptombekämpfung dar. So werden in der repressiven Variante des „aktivierenden Sozialstaates“ die EmpfängerInnen von Sozialleistungen gezwungen, innerhalb einer gewissen Zeitspanne wieder eine Arbeit zu finden, sofern sie nicht aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Falls dies nicht geschieht, werden die Leistungen gekürzt und die Forderungen verschärft. Doch nicht nur über die administrative Form wird ein Zwang ausgeübt, auch durch soziale Sanktionen und Diskreditierung geraten die Menschen in eine Abwärtsspirale und letztlich in die Arbeitslosigkeitsfalle. Dies steht im starken Gegensatz zur Idee einer freien Bürgergesellschaft und des bedingungslosen Grundeinkommens.
Emanzipatorische Wirtschaftsbürgerrechte und Ordnungspolitik
Eine mögliche Ursachenbekämpfung bestünde darin, dass jedem Bürger und jeder Bürgerin die gleiche Chance auf „eine selbstbestimmte Lebensführung und Existenzsicherung gewährleistet wird – in Form emanzipatorischer Wirtschaftsbürgerrechte. Auf eine programmatische Kurzformel gebracht geht es um mehr emanzipatorische Gesellschaftspolitik als Voraussetzung für weniger kompensatorische Sozialpolitik – in Absicht auf die grösstmöglichereale Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger“ (Ulrich 2010: 6). Das BGE kann in diesem Sinne mit der emanzipatorischen Variante des aktivierenden Sozialstaates verglichen werden, welcher die Hindernisse (u.a. fehlende Qualifikationen und soziale Isolation) zu beseitigen versucht, welche Arbeitssuchende daran hindern, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. So dient es als starkes Instrument im Kampf gegen die „Exklusionsfalle“.
Wie lassen sich eine leistungsfähige Marktwirtschaft und eine gerechte und freie Gesellschaft kombinieren? Ulrichs Antwort ist ziemlich einfach: Man muss sich die Ordnungspolitik als zweistufiges Modell denken. Zum einen umfasst sie die Wettbewerbspolitik, welche die „Durchsetzung offener Märkte“ und einen „effizienten Einsatz der Marktkräfte“ beinhaltet, und zum anderen die Ebene der Vitalpolitik, die „alle Faktoren in Betracht zieht, von denen in Wirklichkeit Glück, Wohlbefinden und Zufriedenheit des Menschen abhängen“ (Rüstow, zit. in: Ulrich 2007: 4). Dabei steht die Ebene der Vitalpolitik über derjenigen der Wettbewerbspolitik, da die marktwirtschaftliche Effizienz nicht zu einem Selbstzweck verkommen darf, sondern immer im Interesse aller WirtschaftsbürgerInnen genutzt werden soll. Die Effizienz dient der Sinnorientierung des Menschen – nicht umgekehrt. Nicht der Markt, sondern der Mensch weiss, was für ihn schlussendlich am besten ist. Dazu wird eine möglichst effiziente Wirtschaft gehören, aber weder als Selbstzweck noch als absolutes instrumentelles Mass.
Wird nun niemand mehr arbeiten wollen?
Es stellt sich im BGE-Zusammenhang immer auch die Frage nach den wahrscheinlichen Verhaltensreaktionen der Menschen, die zu erwarten sind, wenn sie ein existenzsicherndes Einkommen erhalten, ohne dafür arbeiten zu müssen. Darüber kann keine klare Aussage getroffen werden, aber es gibt Untersuchungen, welche zeigen, dass Menschen das Bedürfnis haben, sich gesellschaftlich einzubringen und in der Arbeit (ob bezahlt oder unbezahlt) auch einen Sinn erkennen. Letzteres ist wohl auch davon abhängig, wie stark das Mass an Freiwilligkeit ist: Je freier die Arbeitswahl, desto stärker die empfundene Sinnhaftigkeit und die Freude an der entsprechenden Arbeit. In Deutschland zum Beispiel engagieren sich bereits heute über 30 Prozent der Bevölkerung regelmässig mehr als 15 Wochenstunden ehrenamtlich.
Zudem besteht auch mit dem BGE weiterhin ein materieller Anreiz zur Erwerbsarbeit – es ist ja nicht so, dass man mit dem Betrag des Grundeinkommens über genug Geld verfügt, um in die Ferien fahren oder sich regelmässig ein 6-Gang-Menü im Gourmet-Restaurant leisten zu können.
Leistungsgerechtigkeit und bedingungsloses Grundeinkommen
„Gralshüter der Leistungsgerechtigkeit wenden gegen das bedingungslose Grundeinkommen gern ein, dass man sich eine solche Unterstützung erst einmal durch Leistung verdienen muss. Doch mit welcher Leistung nützt man tatsächlich der Gesellschaft? Und wie viel Geld ist welche Leistung wert? Wer Geld durch Abholzen des Regenwaldes verdient, gilt heute als erfolgreicher Geschäftsmann, obwohl er grossen Schaden an unser aller Lebensgrundlage anrichtet. […] Ist das gerecht? Welche Instanz soll entscheiden, welche Leistung der Gesellschaft nützt und wie viel Geld sie wert ist? Welche Instanz soll entscheiden, welche Lebensentwürfe es wert sind, unterstützt zu werden? Doch wohl zuallererst jeder Mensch für sich selbst! Freiheit in der Wahl des eigenen Lebensentwurfes und das Recht auf Selbstbestimmung eines jeden Menschen bedürfen aber natürlich einer materiellen Basis. Wir sollten deswegen Gerechtigkeit nicht im Sinne von Leistungsgerechtigkeit interpretieren, sondern für soziale Gerechtigkeit im Sinne von Teilhabegerechtigkeit und Teilhabegarantie streiten. Gerecht ist, wenn allen Menschen ein Leben jenseits der Armut und Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist. […] Eine Schlussfolgerung aus dieser Herangehensweise ist die Befürwortung des bedingungslosen Grundeinkommens“ (Katja Kipping 2007: 14).
Quellen:
Drescher, Jörg (Hrsg.) (2007): Die Idee eines Emanzipatorischen Bedingungslosen Grundeinkommens.
Ulrich, Peter (2010): Republikanischer Liberalismus: Zum Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft. In: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 64 (2010), Nr 728, S. 68-73. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
Ulrich, Peter (2007): Das bedingungslose Grundeinkommen – ein Wirtschaftsbürgerrecht? In: http://www.archiv-grundeinkommen.de/ulrich/20071007-PUlrich-Basel.pd f, 2007. – Referat am 2. deutschsprachigen Grundeinkommenskongress. Basel.
Vanderborght, Yannick & Van Parijs, Philippe (2010): Das bedingungslose Grundeinkommen. Ein Blick auf seine politische Realisierbarkeit. In: Bedingungsloses Grundeinkommen als Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft (2010): 329-359.
Van Parijs, Philippe (2010): A Good Life. In: The World Book of Happiness: 302-305. Auflage 3, DuMont Buchverlag
Artikelbild: Martin Benhöfer / pixelio.de
Serie: Bedingungsloses Grundeinkommen
- Das stärkste Argument für das Bedingungslose Grundeinkommen
- Eine gesellschaftspolitische und ökonomische Idee jenseits von Markt- bzw. Staatsgläubigkeit?