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Das Für und Wider der Empathie

on Februar 22. 2014

Die acht-jährige Karina Encarnacion aus Missouri schrieb 2008 einen Brief an den frischgewählten Präsidenten Barack Obama, indem sie ihn darüber beratschlagte, welche Art von Hund er sich für seine Töchter zulegen sollte. Sie schlug auch vor, Recycling strenger durchzusetzen und unnötige Kriege zu untersagen. Obama bedankte sich schriftlich bei ihr und unterbreitete seine eigenen Ratschläge:

Solltest du die Bedeutung dieses Wortes noch nicht kennen, so möchte ich, dass du „Empathie“ im Wörterbuch nachschlägst. Ich glaube, wir haben nicht genügend Empathie in unserer heutigen Welt, und es liegt an deiner Generation, dies zu ändern.

empathy

Es war nicht das erste Mal, dass Obama sich für die Empathie aussprach. Zwei Jahre früher, in einer Rede zur Abschlussfeier an der Xavier-Universität in Louisiana, erörterte er die Wichtigkeit davon „die Welt durch die Augen jener zu sehen, die anders sind als wir“ – das hungrige Kind, der entlassene Stahlarbeiter, die Familie deren Existenz im Sturm der Wirtschaftskrise zusammenbrach. Er fuhr fort

Wenn du auf diese Weise denkst – wenn du die Grenzen deiner Sorge ausdehnst und der Notlage der anderen Empathie entgegen bringst, ob sie nun nahe Freunde oder ferne Fremde sind – so wird es schwieriger nicht zu handeln, schwieriger nicht zu helfen.

Empathie und Altruismus

Das Wort „Empathie“ wurde im Deutschen 1848 vom Philosophen Rudolf Hermann Lotze erstmals verwendet, wobei sich dieser am altgriechischen Wort empatheia für Leidenschaft orientierte. Dennoch reicht das Interesse an den moralischen Implikationen davon, uns in die Schuhe anderer hineinzuversetzen, weiter zurück. In der Theorie der ethischen Gefühle (1759) stellte Adam Smith fest, dass Sinneseindrücke alleine unser Mitgefühl mit anderen nicht in Gang setzen können:

Auch wenn unser Bruder auf der Folterbank liegt, so lange wir selbst uns wohl fühlen, werden uns unsere Sinne nie darüber informieren, wie er leidet.

Was uns zu moralischen Wesen macht ist nach Smith das Vermögen „uns in seine Situation zu versetzen […] und in gewissem Sinne die gleiche Person wie er zu werden, und deshalb eine Ahnung von seinen Empfindungen zu erhalten und sogar etwas zu fühlen das, wenn auch weniger intensiv, sich von diesen nicht all zu sehr unterscheidet.“.

In diesem Sinne ist Empathie ein instinktives Spiegeln der Erfahrungen der anderen – James Bonds Genitalien werden in Casino Royale malträtiert und männliche Kinobesucher verziehen die Gesichter und schlagen ihre Beine übereinander.

Smith spricht davon wie „edle Personen“, die die Schmerzen und Geschwüre eines Bettlers entdecken, „dazu neigen, ein Jucken und eine unangenehme Empfindung in den entsprechenden Teilen ihres Körpers zu fühlen“. Die „Empathie-Altruismus Hypothese“, wie der Psychologe C. Daniel Batson sie nennt, geniesst heute in den Sozialwissenschaften weitgehenden Rückhalt. Batson fand heraus, dass alleine schon seine Testpersonen anzuweisen, sich in jemand anderes Perspektive hineinzuversetzen, diese fürsorglicher machte und ihre Wahrscheinlichkeit zu helfen erhöhte.

Die Empathie-Forschung gedeiht dieser Tage, während die kognitive Neurowissenschaft einen Wandel durchläuft, den einige die „affektive Revolution“ nennen. Der Fokus auf Emotionen verstärkt sich, insbesondere auf jene, die bei moralischem Denken und Handeln involviert sind. Zum Beispiel hat sich gezeigt, dass einige derselben neuronalen Systeme, die aktiv sind, wenn wir selbst Schmerzen empfinden, auch aktiv werden, wenn wir das Leiden anderer beobachten. Andere Forscher untersuchen, wie Empathie in Schimpansen und anderen Primaten entsteht, wie sie sich in jungen Kindern entwickelt, sowie die Umstände, welche sie auslösen.

Das Interesse hierbei ist nicht rein akademisch. Wenn wir die Empathie besser verstehen, werden wir möglicherweise auch im Stande sein, mehr von ihr zu produzieren. Einige hemmen ihre Empathie indem sie sich bewusst politische oder religiöse Ideologien einverleiben, die Härte gegen Widersacher predigen. Bei anderen rührt mangelndes Empathie-Vermögen von schlechten Genen, misshandelnder Erziehung, brutalen Erfahrungen oder dem üblichen unglücklichen Gulasch aus allem obigen her. Ein Extrem bildet dabei jenes Prozent der Menschen, die klinisch als Psychopathen bezeichnet werden. Zu den üblichen Kriterien zählt hierfür „Gefühlskälte; Mangel an Empathie“. Andere charakteristische psychopathische Züge wie fehlendes Schuldgefühl und pathologisches Lügen lassen sich auf dieses eine fundamentale Defizit zurückführen. Manche geben dem Mangel an Empathie die Schuld für einen Grossteil des Leides in der Welt. Der britische Psychologe und Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen geht in The Science of Evil: On Empathy and the Origins of Cruelty (2012) gar so weit, das Böse der „Empathie-Erosion“ gleichzusetzen.

Emily Bazelon schreibt in ihrem aufmerksamen neuen Buch über Mobbing, Sticks and Stones (2013), „Der erschreckendste Aspekt des Mobbings ist das völlige Fehlen von Empathie“ – eine Diagnose, welche sie nicht nur für die Mobber zieht, sondern auch für jene, die nichts unternehmen um den Opfern zu helfen. Nur wenige von denen, die sich an Mobbing beteiligen, werden sich zu ausgewachsenen Psychopathen entwickeln, wägt sie ab. Der Empathie-Mangel ist vielmehr situational: Mobber haben sich angewöhnt, ihre Opfer als wertlos zu sehen; sie haben sich entschieden, ihre empathischen Reaktionen zu unterdrücken. Die meisten jedoch wachsen aus ihrem schrecklichen Verhalten heraus, und werden es möglicherweise bereuen. „Der Schlüssel ist sich daran zu erinnern, dass fast jeder die Fähigkeit zu Empathie und Anstand hat – und diese Fähigkeit so gut wie nur möglich zu fördern“, erklärt sie.

Zwei weitere aktuelle Bücher, Die empathische Zivilisation (2009) von Jeremy Rifkin und Humanity on a Tightrope (2010) von Paul R. Ehrlich und Robert E. Ornstein, argumentieren eindrücklich dafür, dass die Empathie einer der hauptsächlichen Treiber der menschlichen Entwicklung war, und dass wir mehr von ihr brauchen um das Überleben unserer Spezies zu sichern. Ehrlich und Ornstein wollen, dass wir uns „emotional einer globalen Familie anschliessen“. Rifkin fordert uns auf, den Schritt zu einem „globalen empathischen Bewusstsein“ zu machen. Er sieht darin die letzte grosse Hoffnung um die Welt vor der Umweltzerstörung zu retten, und schliesst mit der klagenden Frage „Gelingt es uns rechtzeitig ein Bewusstsein für unsere Biosphäre und globale Empathie zu entwickeln, um den Kollaps des Planeten zu vermeiden?“ Diese Bücher sind durchdacht und bieten eine ausführliche und verständliche Übersicht über die wissenschaftliche Literatur zur Empathie. Dem Zeitgeist entsprechend beschwören sie vertiefte Empathie enthusiastisch als Heilmittel für die Übel der Menschheit.

Beschränkt, engstirning und des Rechnens nicht fähig

Dieser Enthusiasmus könnte aber fehlgeleitet sein. Die Empathie bringt ihre eigenen Schwierigkeiten mit sich – sie ist beschränkt, engstirning und des Rechnens nicht fähig. Häufig handeln wir dann am besten, wenn wir klug genug sind, uns nicht auf sie zu verlassen.

Im Oktober 1987 versteinerte Jessica McClue die amerikanische Nation, als die Eineinhalbjährige in Texas in einen engen Brunnen fiel und eine Rettungsaktion auslöste, welche achtundfünfzig Stunden dauerte. „Jeder und jede in Amerika wurde zu Jessicas Pate oder Patin als das geschah“ erklärte Präsident Reagan. Die immense Kraft der Empathie hat sich wieder und wieder gezeigt. Sie war der Grund dafür, dass Amerikanerinnen und Amerikaner vom Schicksal von Natalee Holloway gefesselt wurden, einer Teenagerin, die im Jahr 2005 in Aruba verschwand. Sie ist auch dafür verantwortlich, dass im Gefolge von Tragödien und Katastrophen, über die ausführlich berichtet wurde – der Tsunami 2004, Hurrikan Katrina im Jahr darauf oder Taifun „Hayian“ auf den Philippinen – zahlreiche Menschen bereit waren, Zeit, Geld und sogar Blut zu spenden.

Warum reagieren Menschen auf diese Unglücke, aber nicht auf andere? Der Psychologe Paul Slovic weist darauf hin, dass der Berichterstattung über Holloways Verschwinden deutlich mehr Sendezeit gewidmet wurde als dem zeitgleich stattfindenden Genozid in Darfur. Jeden Tag stirbt das zehnfache der Todesopfer von Hurrikan Katrina an vermeidbaren Krankheiten, und über dreizehn mal soviele gehen an Unterernährung zu Grunde.

Natürlich schaffen es neue Ereignisse die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ebenso wie wir das Brummen des Verkehrs mit der Zeit ignorieren können beginnen wir Probleme zu übersehen, wenn sie unbeugsam scheinen, wie das Verhungen von Kindern in Afrika – oder Tötungsdelikte in den Vereinigten Staaten. In den vergangenen drei Dekaden gab es um die sechzig grosse Schiessereien, welche für etwa fünfhundert Tote verantwortlich waren; das entspricht etwa einem Promille der Tötungselikte in Amerika. Aber Massenmorde schaffen es auf Fernsehschirme, in die Schlagzeilen und ins Web; die grössten setzen sich im kollektiven Gedächtnis fest – Columbine, Virginia Tech, Aurora, Sandy Hook. Sofern das Opfer niemand ist, von dem man schon gehört hat, gehören die übrigen 99.9% zum Hintergrundlärm.

„Effekt des identifizierbaren Opfers“ (identifiable victim effect) nennt man das, was die entscheidende Ursache für Empathie ist. Der Ökonom Thomas Schelling bemerkte vor fünfundvierzig Jahren mit beissendem Sarkasmus „Wenn ein sechsjähriges Mädchen mit braunem Haar tausende von Dollars für eine Operation benötigt, die ihr Leben bis Weihnachten verlängern wird, so wird die Poststelle mit Spenden überschwemmt, um sie zu retten. Berichtet man aber, dass ohne eine Mehrwertsteuer die Krankenhäuser in Massachusetts verfallen werden und sich so die Anzahl verinderbarer Todesfälle erhöhen wird, so wird kaum jemand ein Träne vergiessen oder nach seinem Scheckbuch greifen.“

Der Effekt lässt sich in Experimenten beobachten. Die Psychologinnen Tehila Kogut und Ilana Ritov befragten Testpersonen wieviel Geld sie bereit wären zu geben um ein Medikament zu entwickeln, welches das Leben eines Kindes retten würde; andere wurden gefragt wieviel sie geben würden um acht Kinder zu retten. Die Antworten waren ungefähr identisch. Nachdem Kogut und Ritov einer dritten Gruppe aber Namen und Alter des Kindes sagten und ein Bild von ihm zeigten, so schossen die Spenden in die Höhe – es wurde nun viel mehr gespendet um das eine Kind zu retten als die acht.

Die Anzahl Opfer hat kaum einen Einfluss – ob man vom Leiden von Fünftausenden oder Fünfhunderttausenden hört, macht psychologisch kaum einen Unterschied. Stellen Sie sich vor, dass Sie lesen, dass zweitausend Menschen kürzlich bei einem Erdbeben in einem fernen Land starben, darauf aber zu entdecken, dass es tatsächlich sogar zwanzigtausend Opfer waren. Fühlen Sie sich zehn mal schlechter? Sofern wir die Zahlen als relevant erkennen können ist es auf Grund der Vernunft, nicht der Empathie.

Kritikerinnen wie Linda Polman weisen darauf hin, dass uns der empathische Reflex im breiteren Kontext der Humanität in die Irre führen kann. Wenn jene, von welchen die Gewalt ausgeht, von Hilfszahlungen profitieren – wie etwa im Fall von „Steuern“, die Warlords häufig von internationalen Hilfsorganisationen verlangen – so schafft man letztlich einen Anreiz, weitere Gräueltaten zu begehen. Nicht unähnlich ist die Praxis einiger Eltern in Indien ihre Kinder bei Geburt zu verstümmeln, damit sie effektivere Bettler werden. Das Leid der Kinder geht uns zu Herzen, aber eine leidenschaftslosere Analyse der Situation ist nötig wenn wir etwas sinnvolles unternehmen wollen, um es zu verhindern.

Auch in der öffentlichen Sphäre schafft eine „Politik der Empathie“ nicht viel Klarheit. Politische Dispute beinhalten in der Regel einen Dissens darüber wem gegenüber wir empathisch sein sollen.

Bei vielen Problemstellungen kann die Empathie uns in die falsche Richtung ziehen. Der Zorn, der erwächst, wenn die Perspektive eines Opfers eingenommen wird, kann Rachegelüste wecken und dazu verleiten, die langfristigen Konsequenzen aus den Augen zu verlieren. In einer Studie von Jonathan Baron und Ilana Ritov wurden Testpersonen gefragt, wie eine Firma, welche ein Impfmitel hergestellt hat, das für den Tod eines Kindes verantwortlich war, am besten bestraft werden sollte. Einigen wurde gesagt, dass eine hohe Busse die Anstrengungen der Firma verstärken würde, ein sichereres Produkt herzustellen. Anderen wurde erzählt, dass eine hohe Busse die Firma davon abschrecken würde, das Impfmittel herzustellen. Da es keine gleichwertigen Alternativen auf dem Markte gäbe würde eine solche Strafe zu mehr Toten führen. Die meisten Testpersonen kümmerten sich wenig um die Konsequenzen; sie wollten, dass die Firma hart bestraft wird, ungeachtet der Konsequenzen.

Diese Dynamik tritt im Strafrecht häufig zu Tage. Willie Horton, ein verurteilter Mörder auf Hafturlaub, vergewaltigte 1987 eine Frau in Massachusetts, nachdem er ihren Verlobten zusammengeschlagen und gefesselt hatte. Das Hafturlaubs-Programm wurde als peinlicher Fehler von Gouverneur Michael Dukakis angesehen und von seinen Gegnern gegen ihn verwendet, als er im kommenden Jahr für die Präsidentschaft kandidierte. Nichtsdestotroz hat das Programm wohl die Wahrscheinlichkeit solcher Vorfälle gesenkt. Eine Untersuchung kam 1987 zum Schluss, dass die Rückfälligkeitsrate in Massachusetts in den elf Jahren, in denen es das Programm gab, abnahm und dass Verurteilte, die vor ihrer Freilassung beurlaubt wurden, seltener ein Verbrechen begingen als die übrigen. Das Problem ist, dass sich nicht auf Individuen zeigen lässt, die auf Grund des Programmes nicht vergewaltigt, angegriffen oder getötet wurden, ebensowenig, wie sich auf eine spezifische Person zeigen lässt, deren Leben durch eine Impfung gerettet wurde.

Es gibt hier ein grösseres Muster zu erkennen. Vernünftige Richtlinien bringen häufig einen Nutzen, der nur statistisch ist, während Opfer Namen und Geschichten haben. Ein Beispiel, das die Grenzen der Empathie besonders deutlich zeigt, ist die globale Erwärmung. Gegner von Beschränkungen auf CO2-Emissionen fällt es leicht, identifizierbare Opfer zu finden – all jene, die unter höheren Kosten oder weggefallen Arbeitsplätzen zu leiden haben. Die Millionen von Menschen, die irgendwann in der Zukunft die Konsequenzen unserer gegenwärtigen Inaktivität zu tragen haben, sind hingegen blasse statistische Abstraktionen.

Dass kaum weitsichtige Massnahmen ergriffen werden wird häufig auf das Anreizsystem in demokratischen Staaten (welches kurzfristige Lösungen begünstigt) und auf die mächtigen Einflüsse des Geldes zurückgeführt. Die Politik der Empathie aber trägt ebenso ihre Schuld. Zu häufig bedeutet unsere Rücksichtnahme auf spezifische heutige Individuen, dass Krisen ignoriert werden, die zahlreiche Menschen in der Zukunft schädigen werden.

Empathie und die Zukunft

Zu moralischem Urteilen gehört mehr, als sich in die Schuhe des Gegenübers zu versetzen. Der Philosoph Jesse Prinz weist darauf hin, dass viele Handlungen, die wir leicht als falsch erkennen, wie Ladendiebstahl oder Steuerhinterziehung, kein identifizierbares Opfer haben. Andererseits verlangen viele gute Taten – etwa, ein faires und unparteisches System zur Verurteilung von Spenderorganen trotz des Leides jener, die unten auf der Liste stehen, durchzusetzen – die Empathie zur Seite zu stellen. Acht Tote sind schlimmer als einer, auch wenn man den Namen der einen kennt; schlecht organisierte Entwicklungshilfe kann kontraproduktiv sein; die Gefahren, die vom Klimawandel ausgehen, rechtfertigen die Opfer die nötig werden, um sie abzuwenden. „Die Abnahme der Gewalt mag mit einer weiterreichenden Empathie zusammenhängen“, schreibt der Psychologe Steven Pinker, „sie hat aber auch viel mit handfesteren Tugenden wie Besonnenheit, Vernunft, Fairness, Selbst-Kontrolle, Normen und Tabus und dem Konzept der Menschenrechte zu tun.“ Ein abwägendes Untersuchen moralischer Pflichten und wahrscheinlicher Folgen ist ein besserer Ratgeber bei der Planung der Zukunft als die impulsive Empathie.

Rifkin und andere haben plausibel argumentiert, dass zu moralischem Fortschritt gehört, unser Bedenken von der Familie und dem Stamm auf die Menschheit als ganzes (und darüber hinaus) auszudehnen. Dennoch ist es unmöglich, sieben Milliarden Fremden Empathie entgegenzubrigen, oder um jemanden, den man man nie getroffen hat, gleich besorgt zu sein, wie um ein Kind, eine Freundin oder einen Partner. Unsere beste Hoffnung für die Zukunft besteht nicht darin, dass alle die gesammte Menschheit als ihre Familie sehen – das ist unmöglich. Sie liegt viel mehr darin anzuerkennen, dass auch dann, wenn wir Fremden keine Empathie entgegen bringen, ihr Leben dennoch den gleichen Wert hat wie das jener, die wir lieben.

Dies soll kein Aufruf für eine Welt ohne Empathie sein. Auch eine Rasse von Psychopathen kann klug genug sein um die Prinzipien der Solidarität und Fairness zu entdecken. (Forschung zeigt, dass kriminelle Psychopathen nicht unfähig sind, moralische Urteile zu treffen.) Das Problem mit jenen, denen die Empathie fehlt, ist, dass sie trotz ihrer Fähigkeit zu Erkennen was Recht ist, keine Motivation haben, dies in ihr Handeln einfliessen zu lassen. Der Funke des Mitfühlens ist nötig um Moral handlungswirksam zu machen.

Ein Funke mag aber alles sein, was nötig ist. Vom Extrem der Psychopathie abgesehen gibt es keinen Hinweis darauf, dass die weniger empathischen auch weniger moralisch sind als der Rest. Simon Baron-Cohen hat beobachtet, dass viele Menschen mit Autismus und Asperger-Syndrom, obwohl typischerweise empathie-defizient, hoch moralisch sind und ein starkes Bedürfnis haben, Regeln zu folgen und sicherzustellen, dass sie fair angewendet werden. Wirklich einen Unterschied macht Empathie hingegen in unseren persönlichen Beziehungen. Niemand möchte wie Charles Dickens‘ Karrikatur-Utilitarist Thomas Gradgrind leben, der alle Beziehungen, inklusive die zu seinen Kindern, aus der rein ökonomischen Perspektive betrachtet. Empathie macht uns menschlich, sie macht uns sowohl zu Subjekten als auch zu Objekten moralischer Gedanken. Die Empathie betrügt uns nur, wenn wir sie als moralische Richtlinie verwenden.

Nach dem Amoklauf an der Sandy Hook Primarschule wurde die Stadt Newton mit soviel Wohltätigkeitsbemühungen überschüttet, dass diese zu einer Last wurden. Über achthundert Freiwillige waren mit der Verteilung der Geschenke beschäftigt, welche die Stadt erreichten. Trotz Appellen der Stadtverwaltung die Zuwendungen anderswohin kommen zu lassen brach der Strom an Geschenken nicht ab. Eine grosse Lagerhalle wurde mit Plüschtieren vollgestopft, welche die Bewohner von Newton nicht mehr brauchen konnten. Millionen von Dollars erreichten die eigentlich ziemlich wohlhabende Gemeinde. Die amerikanische Bevölkerung wollte Newton helfen. Gleichzeitig, um eine lange Liste zu beginnen, sterben jährlich hunderttausende Kinder an Malaria.

So sehen die Paradoxe der Empathie aus. Die Kraft der Empathie hängt mit ihrem Vermögen zusammen unsere moralische Aufmerksamkeit auf einen kleinen Ausschnitt der Welt zu fokussieren. Wenn allerdings Milliarden auf diesem Planeten überleben sollen, gilt es auch das Wohlergehen jener zu berücksichtigen, die noch nicht geschädigt, und erst recht jener, die noch nicht geboren sind. Sie haben keine Namen, Gesichter und Geschichten um unser Gewissen aufzurütteln und an unsere Empathie zu appellieren. Ihre Zukunft zu sichern verlangt vielmehr nach sorgfältigem Abwägen und Reflektieren. Unsere Herzen werden immer mit dem Baby im Brunnen sein, das ist ein Massstab unserer Humanität. Die Empathie muss sich aber der Vernunft unterordnen, wenn die Menschheit eine rosige Zukunft haben soll.

Sehr freie Übersetzung eines Artikels von Paul Bloom im New Yorker: The Baby in the Well (englisch)
Artikelbild: flickr / glsims99