Heuschrecken und Ethik
Was, wenn Heuschrecken den Menschen die Ernte wegfressen? Ist eine genuin tierrechtliche, antispeziesistische Ethik darauf festgelegt, einer Heuschrecke ein gleiches Lebensrecht zuzuschreiben? Ist dies für die Menschen tragbar?
Zunächst ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Tierrechte instrumentell durchaus auch den Menschen auf diesem Planeten zugutekommen – aus gewichtigen ökologischen und sozioökonomischen Gründen.
Die obigen Fragen sind damit aber noch nicht beantwortet: Wenn man eine genuin tierrechtliche, antispeziesistische Position vertritt, verpflichtet man sich dann nicht dazu, einer Heuschrecke ein gleiches Lebensrecht zuzugestehen, also unter Umständen Menschen für Heuschrecken zu opfern? Und ist dies nicht eine Reductio ad Absurdum?
Es wäre irrational, diese Heuschrecken-Konklusion schon im Vornherein zu blockieren (und auszuflippen), nur weil unser – vielleicht völlig naives und verzerrtes – Common-Sense-Urteil sie für kontraintuitiv hält (Appeal to Consequences) und zum Stock greifen will (Argumentum ad Baculum).
„Weil, so schliesst er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf„. Diese messerscharfe „Logik“ würde eine Revision unserer intuitiven Primärurteile apriori und dogmatisch ausschliessen. Was lässt sich also offen-argumentativ zur strittigen ethischen Frage sagen?
Selbst wenn Heuschrecken ein gleiches Lebensrecht haben: Im Rahmen des „Common Sense“ könnte man (je nach empirischer Situation) mit unserem Recht auf Selbstverteidigung antworten – die meisten wären ja wohl der Meinung, wir dürften uns auch gegen Menschen (ob zurechnungsfähig oder nicht) verteidigen. Eine andere Entgegnung bestünde im Hinweis auf die vorliegende Notsituation, die Rechtsverletzungen entschuldigen kann (auch gegenüber Nicht-Angreifern). Allerdings sind diese Entgegnungen konsequentialistisch nicht besonders überzeugend: Wenn es letztlich auf die summierten Konsequenzen einer Handlung bzw. Entscheidung ankommt und meine Interessen dabei nicht mehr Gewicht haben als die gleichen Interessen anderer, dann wird unklar, warum ich zur Selbstverteidigung oder in allgemeinen Notlagen berechtigt sein sollte, meine Interessen über insgesamt gewichtigere Interessen anderer zu stellen. Eine andere Frage ist es, ob man mich tadeln sollte, wenn ich in einer „Notsituation“ – oder allgemein – egoistisch handle. Konsequentialistisch hängt dies einzig davon ab, ob der Tadel bzw. die Tadel-Androhung mich und andere in Zukunft (wahrscheinlich) dazu bewegen wird, bessere Handlungsoptionen zu wählen.
Zurück zu den Heuschrecken: Es gibt plausible Argumente gegen ein (im Konfliktfall) gleiches Lebensrecht, die den Speziesismus nicht voraussetzen. Erstens muss man die Wahrscheinlichkeit, dass bei Insekten Bewusstsein vorliegt, empirisch tiefer ansetzen. Und zweitens scheint, wenn Bewusstsein vorliegt, auch die Bewusstseinsform von Insekten in relevanter Hinsicht tiefer zu sein – ob man nun die Fähigkeit, Glück/Leid zu empfinden (und die künftige Dauer entsprechender Erfahrungen), Präferenzen (insbesondere auch zukunftsbezogene) oder angebliche „Perfektionen“ wie z.B. Intelligenz als Kriterium heranzieht. Es scheint nicht zuzutreffen, dass alle bewussten bzw. empfindungsfähigen Wesen durch eine bestimmte negative Einwirkung gleich stark geschädigt werden bzw. gleich viel verlieren.
Entsprechende Unterschiede gibt es faktisch auch unter Menschen. Und sie schlagen sich – wie Bernd Ladwig im Ethik-Podcast der UZH herausstellt – ja auch in der Praxis nieder: Kaum jemand glaubt z.B., dass ein Fötus denselben ethischen Status hat wie ein erwachsener Mensch. Und in Triage-Situationen (wie sie etwa im Gesundheitswesen vorkommen), d.h. wenn wir aufgrund limitierter Ressourcen nicht alle retten (oder nicht-schädigen) können, nehmen wir auch entsprechende Abstufungen vor – nach erwarteter Lebensqualität und -dauer. Denn es steht jeweils nicht bei allen Individuen gleich viel auf dem Spiel.
Was die Insekten betrifft, ist es nicht zuletzt wichtig, die ethischen Prioritäten richtig zu setzen. Es ist aktuell unmöglich, sich in dieser Welt zu bewegen, ohne Tiere (und insbesondere Insekten) aktiv zu schädigen. Eine non-konsequentialistische, deontologische Ethik, welche die Nicht-Schädigung gegenüber der Hilfe priorisierte, müsste in der Tendenz zum Schluss kommen, dass wir uns von der aktiven Interaktion mit der Welt möglichst fernhalten sollten (insofern sie zur Schädigung empfindungsfähiger Wesen führt). Wenn die Hilfe aber ähnlich oder gleich wichtig ist wie die Nicht-Schädigung (Impact), dann würde es von falschen (unethischen) Prioritäten zeugen, Interaktionen mit der Welt zu unterlassen, um Schädigungen zu vermeiden, wenn diese Interaktionen dazu dienen, durch effektive Hilfe grössere Schäden zu verhindern.